Alexander der Große
Grenzen ihres Reiches und schickte, als sie nicht mehr fern war, Botschaft
voraus, die Königin sei gekommen, mit dem Wunsche, ihn zu sehen und kennenzulernen. Nachdem ihr sofort Erlaubnis zu kommen
erteilt worden war, befahl sie ihrem übrigen Gefolge, Halt zu machen; sie selbst näherte sich von dreihundert Frauen begleitet.
Sobald sie aber den König erblickten, sprang sie vom Pferd, zwei Lanzen in der Rechten haltend […]. Mit unerschrockener Miene
schaute Thalestris den König an und musterte eingehend seine Gestalt, die keineswegs dem Ruhm seiner Taten zu entsprechen
schien. Denn alle Barbaren empfinden vor einer majestätischen Körpergestalt Ehrfurcht und halten dagegen niemand für großer
Taten fähig, den die Natur nicht mit einem ausgezeichneten Äußern gewürdigt hat. Auf die Frage, ob sie etwas von ihm zu erbitten
wünsche, zögerte sie nicht zu gestehen, sie sei gekommen, um mit dem König Kinder zu zeugen; sie sei es wert, dass er von
ihr Erben seines Reiches empfange. Sei es ein Mädchen, so wolle sie es selbst behalten, einen Knaben aber dem Vater zurückgeben.
Alexander fragte sie, ob sie mit ihm in den Krieg ziehen wolle, doch sie gab vor, ihr Reich ohne Schutz zurückgelassen zu
haben, und beharrte bei ihrer Bitte, dass er sie nicht in ihrer Hoffnung getäuscht weggehen lassen möge. Die Frau, heftiger
in ihrer Begierde als der König, veranlasste ihn, einige Tage Halt zu machen, und nachdem 13 Tage auf Erfüllung ihres Wunsches
verwendet waren, begab sie sich in ihr Reich, der König nach Parthiene.
Die Mehrzahl der antiken Leser glaubte an Alexanders Zusammentreffen mit den Amazonen, und selbst diejenigen, die das nicht
taten, |62| glaubten an die Amazonen. Dies gilt auch für Alexander, dessen Vorfahre Herakles die Amazonenkönigin Hippolyte eigenhändig
ihres Gürtels beraubt hatte. Spätere Skeptiker wie zum Beispiel Arrian verwarfen die Thalestris-Episode, gegen deren Richtigkeit
sich ja sein Kronzeuge Ptolemaios ausgesprochen hatte. Er berief sich dabei auf archäologische Zeugnisse und auf die namhaftesten
Historiker wie Herodot und Xenophon. Zumindest Letzterer hätte ja, als er mit seinen „Zehntausend“ die benachbarten Gegenden
durchzog, die Amazonen erwähnt, wenn es im 5. Jahrhundert noch Überlebende dieses Volkes in Kappadokien gegeben hätte. Ganz
will Arrian, der durchaus an Amazonen glaubte, die Geschichte des Onesikritos nicht aufgeben, aber sie verwandelt sich bei
ihm. Er (oder seine Quelle) rationalisiert das als dubios empfundene Geschehen und verlegt es nach Ekbatana. Als sich Alexander
324 dort aufhielt, soll ihm Atropates, der Satrap von Medien, 100 berittene Nomadinnen vorgeführt haben, von denen er behauptete,
es seien Amazonen. Um Unruhe im Heer zu vermeiden, schickte sie Alexander (nach Arrian) umgehend zurück, ließ aber der Königin
ausrichten, er werde sie umgehend besuchen, um mit ihr Kinder zu zeugen: Die Verhältnisse hatten sich umgekehrt: Nun sorgte
sich Alexander um Nachwuchs. 59
Ein Zweifler
Anders als in den Sagen von den berühmten Amazonenköniginnen Hippolyte und Penthesileia, die in den Kontext der frühen griechisch-barbarischen
Kämpfe gehören, geht es in der Thalestris-Episode nicht um Krieg, Tod und Sterben. Nicht Alexander unterwirft die Amazonen,
Thalestris unterwirft Alexander. Es ist keine Spiegelung der Amazonenbegegnung eines Theseus, Achill oder Herakles. Die Legende
hat einen anderen Ursprung, und den hat bereits Plutarch erkannt, dem ein (vielleicht zum Teil gefälschter) Briefwechsel Alexanders
vorlag. Dort fand der Biograph eine Nachricht Alexanders an Antipater, den Statthalter in Europa, der Skythenkönig habe ihm
seine Tochter zur Frau geben wollen. Die Skythen wurden schon von Herodot mit |63| den Amazonen in Verbindung gebracht, 60 und auch bei Arrian selbst schließt sich an das skythische Heiratsangebot die Nachricht vom Eintreffen einer Delegation des
Königs der Chorasmier an, der angeblich versprach, Alexander, falls er dies wünsche, zum benachbarten Frauenstaat der Amazonen
zu führen. 61 So lag es nahe, und war vielleicht sogar im Sinne Alexanders, diese Geschichte auszuschmücken und die Skythenprinzessin in
eine Amazonenkönigin zu verwandeln, von deren Vorgängerinnen das griechische Publikum schon viel gelesen und als Tempel- und
Vasenschmuck auch schon viel gesehen hatte.
Für Onesikritos jedenfalls war dies ein dankbares Thema, das er auf
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