Alice Bhattis Himmelfahrt - Hanif, M: Alice Bhattis Himmelfahrt
riechenden Oberkörper vorstellt.
„Natürlich nicht.“ Alice reißt ihm das Buch aus der Hand. Sie blättert und kommt zum zweiten Kapitel über Heilmittel aus dem eigenen Garten.
Sie beginnt laut vorzulesen, zuerst stockend, dann mit dem Selbstvertrauen, das ihre taufrische Ehe ihr verleiht. Es kommen viele Wörter vor, die Noor nicht versteht, exotische Pflanzen, von denen er noch niemals gehört hat – Banafsha, Ajwain, Nazbo –, und saisonale Vorgaben, von denen er nicht einmal gewusst hat, dass sie existieren: „Gegen Ende des Frühlings sammeln Sie die Blüten ein, die gerade drei Fünftel vom Tage gewelkt sind.“ Im Text verschwimmt der Unterschied zwischen dem Wachstum von Pflanzen und dem von Krebs, als wäre der Klumpen an Zainabs Leber kein bösartiger Tumor, der an ihren Eingeweiden frisst, sondern ein Klumpen feuchter Erde, der in Kürze spätwinterliche Gardenien hervorbringt.
Noor lauscht. Alice bittet ihn, seltsame Zutaten für seltsame Tränke zu notieren. Um die Namen, die er nicht kennt, macht er einen Kringel.
Sie sind wie zwei durch die Wüste irrende Wanderer, die gerade eine Schatzkarte entdeckt haben und für einen Moment ihren Durst und ihre Orientierungslosigkeit vergessen haben.
Hätte Noor ein wenig Erfahrung in diesen Dingen besessen, hätte er Alice Bhattis pathetisches Auftreten vielleicht durchschaut. Er hätte bemerkt, dass sie verträumt wirkte und Ausdrücke wie „Fluss des Lebens“ und „Neuanfang“ und „dein persönliches Universum ins Gleichgewicht bringen“ verwendete. Noor selbst weiß nicht, was er will oder was er zuerst will oder was er für das eintauschen würde, von dem er noch nicht weiß, dass er es will. Er will das Leben seiner Mutter retten, und wenn er das nicht kann, will er, dass sie schmerzlos stirbt – oder vielleicht will er auch nur Alice, die frisch verheiratete oder die alte, nicht konvertierte und nicht verheiratete Alice. Nachts stellt er sich auf die Probe: Was, wenn Zainab gerettet werden könnte, er aber dafür Alice nie wieder sehen dürfte? Was, wenn Alice Teddy verließe, Zainab jedoch dafür mehr leiden müsste? Er weiß, dass diese Fragen keine Logik haben. Aber sind drei Arten von Krebs logisch? Ist es logisch, am Bett seiner Mutter zu sitzen und sich zu fragen, ob Teddy Butt all die Dinge, die er angeblich mit allen möglichen anderen Frauen gemacht hat, jetzt mit Alice macht?
Noor ist Alice Bhatti dankbar, dass sie in die Rolle von Zainabs Retterin schlüpft, aber es ist die falsche Rolle. Sie soll keine Retterin sein. Sie soll auf seinem Schoß sitzen. Er ist in einem Alter, wo sogar er noch auf ihrem Schoß sitzen könnte. Seine Hormone spielen derart verrückt, dass er Sex mit dem Stuhl, den sie gewärmt hat, oder mit ihren weggeworfenen Latexhandschuhen haben könnte. Mit dem Stethoskop, das um ihren Hals hängt, könnte er glücklich leben bis an sein Ende.
In seiner durch diesen Ansturm der Hormone und den drohenden Kummer verursachten Verwirrung erinnert er Alice nicht daran, dass sie keinen Garten haben, um ihre Heilkräuter anzupflanzen.
Ein Onkologe aus Houston, der dem Herz Jesu einen wohltätigen Besuch abstattet, schaut sich Zainabs letzte Untersuchungsberichte an. „Sechs Wochen“, sagt er. „Sie sollten sie nach Hause bringen.“ Alle, die um das Bett herumstehen, blicken zu Boden. Niemand will dem wohltätigen Onkologen sagen, dass ihr Zuhause hier ist. Alice Bhatti geleitet ihn zum nächsten Patienten, und Noor hört den guten Doktor aus Houston säuseln: „Was für ein interessanter Fall, eine seltene Form von Non-Hodgkin.“ Alice kommt später zurück und will Noor beruhigen. „Für wen hält der sich? Für einen Fernseh-Arzt? Hast du seine Zähne gesehen? So was von Weiß.“ Die sechs Wochen werden nicht mehr erwähnt.
Da Dr. Pereira mehr und mehr seiner Zeit den Patienten widmet, die nicht nur eine Frist von sechs Wochen haben, ernennt Alice sich zur Onkologin und Spezialistin für Krebsernährung.
Noor macht ein Kreuz in seinen inneren Kalender, aber er kann sich nicht vorstellen, was der Arzt aus Houston mit den sechs Wochen gemeint hat. Zainab ist noch da, sie leidet, hat Schmerzen, aber sie ist noch da. Sie schläft ein, wacht auf, nimmt ihre Pillen, uriniert, sabbert und kratzt sich kraftlos die trockenen Stellen an den Beinen. Wie soll das noch schlimmer werden? Wird sie jeden Tag ein bisschen sterben, bis zum letzten Tag der sechs Wochen, an dem dann nichts mehr von ihr übrig ist? Er
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