Alice Bhattis Himmelfahrt - Hanif, M: Alice Bhattis Himmelfahrt
vom Mund, schiebt unnötig ein Thermometer in jemandes Rektum. Doch sie kommt immer zurück, als gebe es nur eine Patientin, die zählt.
Zainabs Atem rasselt wie ein schwerfälliger Zug, während sie sich ihrem Ziel nähert, und Noors Arbeit leidet. Seine Berichte werden fehlerhaft. Er verwechselt Kopfschmerzen mit Gelbsucht, Hirntumore mit Tuberkulose, gebrochene Rippen mit geplatzten Gallenblasen. Alle Hinweise auf wirkliche Menschen entfallen, manche Seiten gehen ohne jeden Hinweis an Dr. Pereira. In der Spalte für die Einweisungszeit steht bei allen 12 Uhr. Das Register vor sich aufgeschlagen, starrt Noor auf Zainabs bleiches Gesicht und ihre schrumpfenden Gliedmaßen. Er hofft auf ein Zeichen der Besserung und lauscht auf die sich nähernden Schritte des Todes. Es ist jedoch nichts zu hören außer Zainabs Murmeln im Schlaf.
Die Hausmittel scheinen sie noch mehr verwirrt zu haben. Sie greift zurück in die Vergangenheit und erzählt Noor, wie ihre Mutter einst ihren Vater auf dem Dorfplatz verprügelte, und ihr Vater bei jedem Schlag lauthals lachte, während das ganze Dorf dabeistand und Beifall klatschte.
Wenn eine Frau ihren Mann mitten auf den Dorfplatz zerren und ihn verdreschen könne, sei die Ehe zum Scheitern verurteilt, ermahnt sie Alice.
Dr. Pereira wirft Noor das Register vor die Füße. Eigentlich knallt er es auf den Tisch und trommelt dann mit den Knöcheln darauf herum. Solche Nachlässigkeiten bringen ihn in Rage, aber heute wirkt sogar sein Zorn zerstreut. „Was habe ich dir gesagt? Es geht darum, wahrheitsgetreu und regelmäßig zu berichten. Ich habe dich um die einfache Aufzeichnung von Fakten gebeten. Nur um die einfache Schilderung dessen, was hier vor sich geht. Wer was tut. Ich will keine Liste der Leiden. Und was bekomme ich? Eine schäbige Liste mit Namen, Erkrankungen, Einweisungen, Entlassungen und Todesfällen. Wer sie in ein paar Jahren liest, erfährt nur, dass es einmal ein Krankenhaus gab, in dem eine Menge Leute lagen und an allen Krankheiten litten, die die Menschheit je gekannt hat. Jedes Kind könnte dir das sagen. Ein Krankenhaus ist per definitionem voller Kranker. Was ist mit den anderen? Dem Pflegepersonal, den Arbeitern?“ Im Grunde fragt er Noor, wie es sein kann, dass er nicht erwähnt wird. In diesem Jammertal muss es doch einen Erlöser geben. Wer leitet dieses Krankenhaus?
Er ist nicht hier, um Noor und Alice bei der Rettung von Zainab zu helfen. Diese Schlacht ist verloren, das weiß er. Er tut all das für die Nachwelt. „Einige Leute sind hier, um zu arbeiten. Andere wollen nur in einer Fernsehserie leben.“ Er schaut sich ihre Sammlung von Kräutern und Büchern mit handgeschriebenen Titeln an. „Das ist ein Krankenhaus, kein Verein für Hobby-Kräutersammler“, schreit er. „Wenn ihr euren Hokuspokus machen wollt, dann bitte nicht hier.“ Er sieht Noor an. „Geh zurück an deine richtige Arbeit.“
Dr. Pereiras Ärger über Alice Bhatti und Noor ist dereines Privilegierten gegenüber weniger Begünstigten, denen man eine Chance gegeben hat, die jedoch entschlossen sind, sie zu vergeuden. Wie Menschen, die sich weigern, das Haus zu verlassen, selbst wenn das Wetter schön ist. Die sich in ihrem Unglück suhlen, wenn auf der Straße getanzt wird. Sich weigern teilzuhaben, wenn Geschichte gemacht wird. Dr. Pereira ist Mensch genug, um zu wissen, dass Alice und Noor ihr Unglück nicht verschuldet haben, aber er hat auch nicht genügend Phantasie, um zu erkennen, wie verzweifelt sie sich bemühen, ihr Schicksal umzuschreiben.
Noor hat genug Zeit im Krankenhaus verbracht, um zu wissen, was man hier wirklich denkt: dass Schwester Alice in der Gosse aufgewachsen ist und noch immer ihren Gestank an sich trägt. Dass Noor im Gefängnis zur Welt gekommen und aufgewachsen ist und ihm der Geruch des Sklaven anhaftet. Noor kennt noch kein wahres Elend. Er wird es erst kennenlernen, wenn er das offene Grab sieht, das klaffende Loch in der Erde und darin Zainab in sechs Meter weiße, mit Wasser aus dem Zamzam-Brunnen in Mekka gewaschene Baumwolle gehüllt.
„Hier muss sich etwas ändern“, sagt Dr. Pereira, während er an den Rand von Noors Register kritzelt. „Veränderung ist immer gut. Schwester Hina Alvi hat mir gesagt, unsere Entbindungsstation sei ein einziges Durcheinander. Ein Baby-Schlachthaus hat sie sie genannt. Der Kreißsaal sei eine Spielhölle, aus der nur Verlierer kämen. Ihr beide werdet dort gebraucht. Zumindest gibt es dort Leben, das
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