Alicia II
Voss. Er ließ sich in einen Sessel plumpsen, als sei es nicht länger als ein Jahrhundert her, daß wir miteinander gesprochen hatten, und erzählte mir, wie wertvoll ich für die Regierung sei. Irgendwie war den amtlichen Stellen meine Untergrundtätigkeit entgangen. Mein Freund wollte über gar nichts anderes mit mir reden als über meine Kenntnisse, meine Fähigkeiten, meine Noten in den Nachprüfungen für meinen Beruf. Der Witz dabei war, daß der Großteil meines neuen Wissens von meiner subversiven medizinischen Arbeit herrührte. Meine Rebellenfreunde waren natürlich entzückt. Sie sahen darin eine Chance, für sie nützliche Informationen zu erlangen. In gewisser Weise war es eine komische Situation.«
»Aber auch eine gefährliche, Ben«, warf ich ein.
»Was bedeutet ein bißchen Gefahr, wenn man sich in seinem dritten gefeiten Leben befindet?«
»Ich hätte gern ein bißchen mehr Gefahr in meinem Leben«, sagte Alicia.
»Aber sie konnten dich bereits in Verdacht haben. Sie konnten dich beobachten …«
»Das hätte keinen großen Unterschied bedeutet. Doch du könntest recht haben. Okay, nimm einmal an, jemand hat es auf dich abgesehen und du weißt es. Was würdest du tun?«
»Ich würde wohl versuchen festzustellen, was den Ärger verursacht hat, und ihn aus der Welt schaffen.«
»Ein tollkühnes Vorgehen, typisch für dich. Voss, dies ist keine zweitklassige Tyrannei, keine offene Diktatur, wo man sicher weiß, welche Personen aufs Korn zu nehmen sind. Wir haben es mit Tausenden von Menschen zu tun, mit Tausenden von Monster-Bürokraten, die nach Macht streben, nach größeren Privilegien angeln, die einstreichen, was sie können, um in mehr unverdientem Luxus zu schwelgen. Es ist nicht so, daß man nur ein einziges Individuum zu entfernen braucht, um die allgemeine Situation zu ändern. Wir werden von winzigkleinen Leuten regiert, deren Hauptehrgeiz es ist, so hoch wie möglich zu steigen, dann erneuert zu werden und weiterzuklettern und sonst noch allerlei zu tun, wovon nur der weiß, der mittendrin steckt. Das sind Liliputaner, die uns andere, die Massen mit Millionen von winzigkleinen Stricken an Millionen von winzigkleinen Pflöcken niederhalten. Sie können sich in unserem Haar verstecken, uns am Bart ziehen, unsere Nasenlöcher erforschen, das macht keinen Unterschied, wir können nicht einmal nach ihnen schlagen. Wir können nichts tun. Nichts. Hast du Schwierigkeiten mit diesem Konzept? Wir könnten en masse angreifen, links und rechts mit unsern scharfen Säbeln um uns hauen, Raketen mit nuklearen Sprengköpfen aus unsern Kanonen abschießen, auf ihre Leichen steigen und die nächste Welle abwehren und die nächste und die nächste. Sie haben herausgefunden, daß Macht sehr gut in winzigen Portiönchen ausgeübt werden kann, und sie wollen ihre Portiönchen behalten. Ganz gleich, was für geniale Einfälle die Rebellen haben – ob Sabotage, Mord, Infiltration der Bürokratie, allgemeiner Terror –, ganz gleich, was man versucht, das Erneuern geht weiter. Sicher, es wird ein bißchen behindert, die Perioden der Dunkelheit werden länger, aber das ist auch alles. Ein paar Individuen werden eliminiert, wir machen den Exzessen von Menschen wie deinem Freund Pierre ein Ende, aber wenn wir immer nur einen auf einmal töten, ist das gerade so, als träte man auf eine einzelne Wanze, während die übrigen gemütlich in ihren Ritzen in der Wand sitzen. Aber, Gott, ich kann mich nicht länger mit kleinen Siegen zufriedengeben. Wenn nicht mehr zu erreichen ist, dann möchte ich manchmal aufhören und nur noch nutzlose Dinge tun.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, wie du an
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