Alicia II
brillant. Das wirft sie um ungefähr …«
»Hör auf! Alicia, es ist unmenschlich.«
»Das Erneuern ist unmenschlich.«
»Du sagst das mit all der Liebe des Revolutionärs zu hohlen Sprüchen.«
»Verdammt, Voss, ich bin ein Revolutionär! Ich will daran teilhaben. Wenn ich könnte, würde ich in die Tiefe hinabsteigen und dir bei deiner Aufgabe helfen.«
»Aber die menschlichen Leben …«
»Was für menschliche Leben, verdammt nochmal?«
Alicias Augen funkelten vor Zorn. Sie wären schön gewesen, hätten wir über ein weniger wahnsinniges Thema gesprochen.
Ich ließ einige Augenblicke verstreichen, bis ich von neuem erregt weiter sprach.
»Wir reden hier nicht von gelegentlichen Attentaten, von Leichen auf der Straße. Du hast gehört, daß Ben gesagt hat, es könnten Millionen von Menschen getötet werden, Millionen …«
»Darin hast du unrecht, Voss«, erwiderte Alicia. »Du denkst an sie immer als Menschen. Als menschliches Leben. Aber das sind sie nicht, siehst du das nicht ein? Es sind die Überbleibsel von Leichen, die längst zu Staub zerfallen sind. Ihr Leben haben sie gehabt, manche von ihnen haben mehr als ein Leben gehabt, das weißt du. Es ist nicht dasselbe wie Mord oder gar Massenmord. Diese – nenne sie Individuen, wenn du willst, oder sonstwie, nur nicht Menschen oder Leben – sie alle warten in ihrer Periode der Dunkelheit darauf, daß jemand anders ermordet wird, damit sie seinen Körper erben können. Du sprichst von Massenmord? Sie sind die Mörder, jeder einzelne von ihnen. Massenmord ist nicht das, was du ihnen antust, es ist die Auslöschung jedes Ausgemusterten, der sein Leben hingeben muß, damit sie fünf oder sieben zusätzliche Jahrzehnte gewinnen. Es ist kein Mord, Voss. Mit keinem Argument kannst du mich dazu bringen, die Eliminierung einer Million individueller Mörder als eine Art philosophischen Massenmords anzusehen.«
»Du verstehst das nicht, du …«
»Natürlich verstehe ich es. Ich versuche gerade, dir klarzumachen …«
»Darum geht es nicht einmal. Ich … es ist mir … ich kann nicht …«
Ich hörte auf zu reden, ich fand nichts mehr zu sagen. Ich konnte Ben und Alicia nicht einmal ansehen. Als ich es schließlich doch tat, war ich erstaunt, daß sich in ihren Gesichtern keine kochende Wut, keine rebellische Feindseligkeit zeigten. Sie betrachteten mich mit einer Freundlichkeit, der sich wahrscheinlich Sympathie beimischte.
Ich kam mir vor wie auf dem Zeugenstand, und die Jury war auf meiner Seite, würde jedoch trotzdem gegen mich stimmen.
»Voss«, sagte Ben in seinem Onkel-Doktor-Ton, »ich weiß, was du denkst. Für mich ist es das gleiche. Es widerspricht meinem Glauben, meinem Berufsethos. Ich verfluche die Tatsache, daß das Wort Seele in Mode gekommen ist statt eines vernünftigeren wie Psyche oder Anima. Aber Psyche oder Anima haben nicht das gleiche emotionale Gewicht. Man wußte schon, was man tat, als man sie gar nicht erst in Gebrauch kommen ließ. Es gibt keine Alternative zum Massenmord, und mir macht es gar nichts aus, unsere Tat so zu nennen. Ich ziehe es vor, an die Materie innerhalb der Behälter als Menschen, als Leben zu denken. Ich will sie töten. Ich will nicht an die künftigen Lebensspannen denken, an die möglichen Beiträge zum Wohle der Menschheit, die von diesen extra-speziellen Erneuerten geleistet werden können, falls ich ihre Existenz nicht auslösche. Damit liefe ich in eine der ideologischen Fallen, die all die Jahre das Erneuern gerechtfertigt haben. Die wenigen wertvollen Erneuerten müssen geopfert werden, um der Menschheit als ganzer wieder Wert zu geben. Nicht nur Wert, sondern auch Hoffnung und Kraft. Wir müssen in dem einzigen Leben, das uns
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