Alicia II
hinunter.
Da ich den allgemeinen Grundriß des Raums kannte, wenigstens in Form einer Blaupause, wußte ich, daß mein erster Haltepunkt nur ein paar Meter, nur ein paar Schritte weiter entfernt lag. Ich begann, langsamer zu gehen, obwohl es mich drängte, die verdammte Sache zu Ende zu bringen. Zu beiden Seiten erhoben sich über mir Regalwände mit zahllosen Unterteilungen. Auf ihnen standen die geschwärzten Behälter, die die Gehirne und Seelen meiner Opfer beherbergten. Ich blickte nach oben und konnte die obere Kante nicht sehen. Ich kam mir wie in einer himmelhohen Bibliothek vor. Plötzlich, ehe ich mir klargemacht hatte, daß ich dem Punkt so nahe war, fand ich mich am Fuß einer kleinen Treppe, die zu dem ersten Füllstutzen für die Nährlösung führte. Ich zögerte. Die Spitze meines Schuhs stieß gegen die erste Stufe, bereit, sich aus eigener Machtvollkommenheit wieder zurückzuziehen.
Vielleicht brauchte ich gar nichts zu tun, dachte ich. Ich konnte Stacy seine Hälfte der Mission ausführen lassen, was eine genügend zerstörerische Wirkung zeitigen würde, und niemand erfuhr jemals, daß ich mich gedrückt hatte. Es hätte den Anschein, als ob wir beide daran beteiligt gewesen wären. Nur innerlich würde ich wissen, daß ich nicht schuldig war. Nicht schuldig? Nein, unmöglich. Auch wenn ich kein Gran Mikrostaub in den Stutzen fallen ließ, auch wenn ich meinen ganzen Vorrat in den nächsten Mülleimer warf, wäre ich selbstverständlich ebenso schuldig. Ich war hier, oder nicht?
Eine Hand auf meinem Arm riß mich aus meinen Gedanken.
Ich sah in das Gesicht einer jungen Frau. Es war ein narbenbedecktes Gesicht. Eine Wange sah aus, als sei sie einmal mit zwei sich kreuzenden Messerstichen aufgeschlitzt worden. Wenn sie nicht zuerst gesprochen hätte, wäre mir vielleicht die Frage entschlüpft, ob auch sie einen sabotierten Körper geerbt habe.
»Stimmt irgend etwas nicht, Freund?« fragte sie. Ihr Lächeln schien, obwohl es freundlich gemeint war, die Form der Messernarben zu imitieren.
»Nur ein Schwindelanfall, tut mir leid.« Ich forschte in ihren trüben haselnußbraunen Augen nach aufdämmerndem Argwohn.
»Gespensterangst.«
»Was?«
»Gespensterangst. Sie wissen schon. Oder sind Sie neu hier?«
»Ich bin – äh – erst kurze Zeit hier.«
Sie drückte ein Klammerbrett an ihren Körper, als sei es ein Schutzschild. Ich bemerkte, daß sie schief stand, und dann sah ich, daß ihr eines Bein kürzer war als das andere.
»Ja, uns wird allen ab und zu schwindelig. Wir nennen es Gespensterangst. Das sind die Geister. Nichts als Aberglaube. Das Gefühl, unsere Schutzbefohlenen könnten ihren Häuschen entrinnen und für kurze Zeit in uns einfahren. Besessenheit durch Geister, das hat eine alte Tradition. Sie sind soeben von der Gespensterangst berührt worden. Eine dieser Seelen fühlte sich von Ihnen angezogen und hat Sie für einen Augenblick besessen, das ist alles.«
Sie gab sich so viel Mühe, freundlich und beruhigend zu sein, daß ich mich meines körperlichen Abscheus vor ihr schämte.
Es war mir auch nicht klar, warum ich Abscheu empfand. Ich hatte schon Narben, schon Krüppel gesehen, ohne zurückzuzucken. Warum kam mir gerade diese Frau so abstoßend vor? Dann sah ich sie genauer an und erkannte den Grund. Unter den Narben ähnelte sie Alicia. Eine vage Ähnlichkeit, ja, aber eine Ähnlichkeit. Als seien Alicias beste Züge irgendwie zusammengedrückt und auf einem breiteren Gesicht angebracht worden, als habe man ihr Haar streng frisiert, ihren Körper stämmiger gemacht und ein Bein weiter hineingeschraubt. Und da stand sie und berührte meinen Arm und versicherte mir, alles sei okay. Plötzlich wünschte ich mir, diese
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