Allawa
vorzuführen. Sein Verhalten bewies nur, daß er auf das menschliche Unterbewußtsein und unausgesprochene Gefühle reagierte — man hätte Weisheit oder wenigstens Selbsterziehung an der Konfrontation entwickeln können.
Wegen dieser Antennen, wie sie die Säuglinge haben (noch jenseits vom Worte-Hören und Beobachten, um so empfänglicher für Stimmungen oder Schwingungen): deshalb hatte ich als Kind geglaubt, daß Primus immer wüßte, wie ich es meinte. Zu Recht? War meine Art verständlicher oder sein Gemüt klarer gewesen? Oder hatte nur der Zufall Pannen verhindert?
Mit Fingal konnten überraschende, schreckliche Mißverständnisse auftreten. Er saß gern auf Betten, was in seiner Kindheit erlaubt, jetzt aber verboten war (also unsere Schuld). Ich kam herein, sagte: » Wwer sitzt wo, wo er nicht sitzen soll, wwie ?« Worauf er sich duckte und in seinen Korb sprang. Einige Tage lang mied er die Betten, lag im Korb. Und wenn ich hereinkam, duckte er sich dort, noch ehe ich ihn loben konnte — es war ein Stich durchs Herz. Nichts, nichts begriffen von Korb und Bett; hielt seine bloße Existenz für tadelnswert, mein Erscheinen für hereinbrechende Strafe; beschämend zu denken, daß er sich neben uns anpaßte und wir mit dieser Anpassung rechneten, während er in Wahrheit keine Zusammenhänge überblickte, stumm, demütig. Das ordnende Bewußtsein fehlte; jederzeit, von Zufällen abhängig, waren Fehlassoziationen möglich.
In seinen drei letzten Jahren verschwanden die epileptischen Anfälle vollständig, wohl weil er die Welt auswendig kannte und ruhiger war. Aber im letzten Jahr wurde er nieren- und leberkrank. Schaukeldiät und Medikamente nützten wenig. Fast jeden Morgen war ihm übel, vielleicht litt er auch an Morgenkopfweh, obwohl zwei Tierärzte behaupteten, daß es Hundekopfweh nicht gebe. Woher weiß man das, fragte ich mich. Jedenfalls stieg er widerwillig die vielen Treppen hinunter, döste dann oben im Korb weiter, spuckte ein paarmal rührend ordentlich auf seine Zeitung, sah mich mit glasigen Augen, blassem Wedeln an. Gegen Mittag machte er mir in der Küche oder am Schreibtisch die freudige Mitteilung, daß er gerettet sei. Er schüttelte sich, wirkte danach gewaschen und frisch rasiert, wollte beglückwünscht, gefüttert, ausgefahren werden und spielen, spielen.
Soweit der chronische Zustand. Akute Krisen waren schlimmer und dauerten tagelang. Seine freundliche Ergebung in das Kranksein konnte man sich zum Vorbild nehmen. Schon bei früheren Krankheiten — Staupe, Lungenentzündung, Kunstdüngervergiftung — hatte mich diese Ergebung beeindruckt; im Notizbuch seiner Großmutter stand offenbar, daß Krankheit den Tod bedeute, weil man dann Hungers sterbe, so sei es eben, und so sei es gut.
Bei allen Tieren hatte ich bisher das Gefühl gehabt, daß der Tod nahe dabei ist — kein fremder Gegensatz zum Leben wie bei so vielen Menschen; äußerlich nah, innerlich vertraut, von Artgenossen vorgestorben, von Artgenossen lebend fortgesetzt. Keine Sorgen, Verfügungen, Vorstellungen, Auflehnungen. Nicht tief Verkörperte wie wir; flüchtig Niedergelassene, die leicht wieder aufschweben. Sogar Primus der Schreckliche hatte seine vier Flügelchen behalten; in den letzten Monaten war mir aufgefallen, wie ruhig er probeweise damit wippte.
Fingal machte sich still ans Sterben, genau wie alle andern Male, als es noch nicht an der Zeit gewesen war. Damals hatten wir gewußt, daß man kämpfen muß, siegen wird. Jetzt wußte ich nicht, was ich entscheiden sollte. Alt, über neun Jahre; unheilbar chronisch krank. Ich will ihn nicht sinnlos leiden lassen, morgen fahren wir zum Tierarzt. Aber er freut sich jedesmal , wenn es wieder besser geht. Noch abwarten.
Es ging wieder besser, scheinbar gut. Ich nahm mir vor, den Schritt zu tun, sobald er keine Lust zum Spielen mehr hätte. Ein schlechter Tag — also morgen. Nein, er spielte wieder. Das Zermürbende war nicht, seinen Hundetod mit meinen Menschenbegriffen hinzunehmen — ich liebte ihn genug, um ihn auf seine Weise zu begleiten — sondern zermürbend war das Entscheiden. Kalt eine Zeit bestimmen, telefonieren, wann jemand umgebracht werden soll.
Nach wieder zwei elenden Tagen wollte er ausgefahren werden. Wir gingen einige Schritte auf einer weiten Wiese und zum Wagen zurück. Zu seiner Freude fand er einen runden Spielstein, den er in vielerlei Stimmen besingen konnte. Nach einer Weile ließ ich ihn einsteigen. »Ja, ja, der Stein kommt mit
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