Alles Ist Ewig
Brot gehalten wurden? Alle Kinder, die ihr auf dem Weg nach oben in die Highschool-Etage entgegenkamen, wirkten genauso normal und glücklich wie Jorge. Die Lehrer und ein paar andere Erwachsene, die ihr in den Fluren begegneten, lächelten sie entweder an oder nickten ihr höflich zu. Nichts wirkte irgendwie außergewöhnlich. Fast nichts.
Eine Spindtür klappte zu, und im nächsten Moment stand Haven Milo Elliot gegenüber. Er trug einen marineblauen Blazer mit Messingknöpfen über einem ordentlich gebügelten Oxford-Hemd. Sein blondes Haar war ordentlich gekämmt und seine blauen Augen waren ausdruckslos. Haven hatte schon Toaster mit mehr Ausstrahlung gesehen. Wo war der charismatische junge Mann von der Wohltätigkeitsveranstaltung geblieben? Gab es irgendwo einen Schalter oder einen Hebel auf seinem Rücken, um diesen Androiden zum Leben zu erwecken?
»Entschuldigung«, sagte Milo und ging an Haven vorbei. Nichts deutete darauf hin, dass er sie wiedererkannt hatte. Er hielt drei Bücher unter den Arm geklemmt, und Haven versuchte, die Titel zu lesen, konnte aber auf die Schnelle nur den Namen eines der Autoren entziffern. Edward Bernays.
Milo öffnete die Tür zu einem Klassenzimmer, in dem bereits der Unterricht begonnen hatte. Erleichtert setzte Haven ihre Erkundungstour fort und kam dabei an einem Raum voller Teenager vorbei, die nur ein paar Jahre jünger waren als sie selbst. Ihr Blick blieb an einem Stück leuchtenden Seidenstoffs hängen, und sie hielt inne.
Vor der Klasse stand ein unscheinbares Mädchen in einem atemberaubenden Kleid – einer Robe à la française , prachtvoll genug für eine Hochzeit mit Napoleon höchstpersönlich. Das Mädchen drehte sich langsam im Kreis, während ein Junge auf ein paar Details des Kleids deutete. Er war schlank, hatte wasserstoffblondes Haar und seine Gesichtszüge wirkten feiner und hübscher als die der meisten Mädchen in seiner Klasse. Er hatte dieses Kleid entworfen, das war Haven sofort klar, und es war ein absolutes Meisterwerk. Seine Nähkünste standen ihren eigenen in nichts nach. Und er hatte ein genauso gutes Gespür für Farben und Proportionen wie Beau.
Haven beobachtete seine Mitschüler. Sie saßen schweigend da und machten sich Notizen. Ein Junge aus der letzten Reihe, ein muskulöser, athletischer Typ, hob die Hand und stellte eine ernste Frage zu den Stickereien auf dem Korsett des Kleids. Es gab kein Gekicher oder hämische Kommentare, wie Beau ihnen in Snope City ausgesetzt gewesen war. Niemand fragte den Jungen, wo er denn all die Kleider aufbewahrte, die er für sich selbst schneiderte. Oder welche Farbe das Spitzenhöschen unter seiner Jeans heute hatte. Hier wurde der Junge als Künstler akzeptiert und seine Begabung angemessen gewürdigt.
Abrupt wandte Haven sich ab. Sie hatte auf einmal einen Kloß im Hals. Ob der Junge überhaupt wusste, wie viel Glück er hatte? Wenn Beau nur an einer Schule wie Halcyon Hall gelandet wäre – einer Schule, wo er sich nicht erst prügeln und im Footballteam beweisen musste, um sich zumindest ein bisschen widerstrebenden Respekt zu verdienen. Es hatte ihn sämtliche Kraft gekostet, die er besaß, in Snope City zu überleben, und die Wunden, die diese Zeit hinterlassen hatte, würden vielleicht nie ganz verheilen.
Wer wusste schon, was Adams Beweggründe gewesen waren, als er Halcyon Hall gegründet hatte? Haven interessierte es nicht mehr. Am Ende hatte er eine Schule geschaffen, an der Kinder wie Beau die Chance hatten, zu den Menschen heranzuwachsen, die sie werden sollten. Vielleicht hatte Adam tatsächlich einmal vorgehabt, sie zu stumpfsinnigen Drohnen wie Milo Elliot heranzuzüchten. Doch zwei Dinge wusste Haven nun ganz sicher: Die Schüler von Halcyon Hall waren keine Roboter. Und die Ouroboros-Gesellschaft musste gerettet werden.
KAPITEL 30
M it Schwung flog die Tür des Cafés auf. Owen Bell stand im Eingang und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Haven, Alex und Calum saßen an einem Tisch in der Mitte des leeren Restaurants, während ein aufmerksamer Kellner hinter der Theke lauerte. Haven hatte Alex nach Owens Nummer gefragt, in der Hoffnung, sich einmal allein mit ihm auf einen Kaffee treffen zu können, aber Alex hatte auf einem gemeinsamen Treffen bestanden.
»Alex! Hast du etwa den ganzen Laden für uns räumen lassen?«, fragte Owen und zog seinen Mantel aus. »Findest du das nicht ein kleines bisschen daneben?«
»Meinst du?« Alex klang ehrlich überrascht.
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