Alptraum-Sommer
»Dieser Kleine ist etwas Besonderes.«
»Wie sagte er mir? Über hundert…«
»Er hat recht!« fiel mir der Mann ins Wort. »Er hat hundertprozentig recht. Er hat es gar nicht nötig, Ihnen eine Lüge aufzutischen, denn er ist etwas Besonderes. Er liebt den Wald noch mehr als ich. Die Alraunen sind seine besten Freunde. Endlich hat er welche gefunden, und wann immer es möglich ist, geht er zu ihnen.«
»Auch als ich ihn traf? Da wollte er weg.«
»Genau, er wollte zu seinen Freunden. Er ist ein Sucher seiner eigenen Identität. Er will seine Prinzessin sehen, man hat sie ihm sogar versprochen.«
»Wer tat es? Mandragoro?«
»Kelly und er sind Freunde.«
Meine Gedanken glitten ab. Ich dachte an Suko, der dem Jungen gefolgt war. Sollte Kelly sein Vorhaben in die Tat umgesetzt haben, dann befand er sich jetzt im Wald. Aber bestimmt nicht allein, denn Suko, so gut kannte ich ihn, würde ihm auf den Fersen bleiben und ihn keine Sekunde aus den Augen lassen.
Es gefiel mir überhaupt nicht, Suko in diesem verwunschenen Waldstück zu wissen. Ich merkte, daß mein Adrenalinspiegel anstieg. Ich bekam den gewissen Kick, der mich in die Höhe trieb.
»Wollen Sie weg, Mr. Sinclair?«
»Das dachte ich.«
Der Bärtige lächelte süffisant. »Wahrscheinlich in den geheimnisvollen Wald – oder?«
»Richtig getippt.«
O’Hara überlegte. »Das paßt mir nicht«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Nein, das paßt mir gar nicht. Wer immer Sie auch sind und was immer Sie auch wissen mögen, Mr. Sinclair, ich kann Ihnen keine andere Behandlung zugestehen als den drei Männern vor ihnen auch.«
»Das heißt, Sie wollen mein Blut?«
»Sie haben es sehr drastisch ausgedrückt, aber sie liegen damit nicht daneben.« Er kümmerte sich in den folgenden Sekunden nicht um mich, sondern fixierte einzig und allein seinen Puppenbalg. »Sieht er nicht wunderschön aus, Mr. Sinclair? Ist er nicht ein kleines Kunstwerk? Ja, das ist er und noch mehr. Er gehört zu meinen Leibwächtern. Was ich nicht will, das will er auch nicht.«
Ich hatte begriffen. »Sie und die Alraunen wollen mich also aufhalten?«
»Wir müssen«, flüsterte er mir mit gespitzten Lippen zu. »Ja, wir müssen es.«
Nach dieser Antwort ließ er die Alraune kurzerhand fallen. Es sah so aus, als hätte er den Puppenbalg fortgeworfen, was allerdings nicht stimmte. Die Alraune polterte auf den Holzboden. Noch in der Bewegung veränderte sie sich. An den Seiten wuchsen ihr plötzlich kleine Arme, die mir vorkamen wie Zweige.
Auch Füße bildeten sich. Winzige, gestrüppartige Dinger. Ich konzentrierte mich voll und ganz auf die kleine, jetzt lebendige Figur, so daß ich für andere Dinge, die in meiner Umgebung geschahen, keine Augen mehr hatte.
Ein Fehler.
Sie standen in den Regalen, manche versteckt in den Ecken, wo das Licht nicht hinreichte.
Ich hörte sie erst und sah sie auch, als sie sich über die Kanten wuchteten und nach unten fielen.
O’Hara streckte beide Hände aus. »Da, Sinclair, da! Schauen Sie genau hin. Sie wollen Ihr Blut! Sie brauchen es. Keiner darf uns stören. Auch Sie nicht!«
Ich stand auf.
Leider konnte ich nicht sehen, wie viele dieser feindlichen Alraunen sich in meiner Umgebung aufhielten.
Eine aber sprang mich an.
Sie erwischte mich in Schulterhöhe und klammerte sich dort an meinem Rücken fest, wobei ich das Gefühl hatte, von einer Ratte erwischt worden zu sein.
O’Hara lachte. Sein ausgestreckter Zeigefinger zeigtet auf mich wie die Spitze einer Lanze. »Jetzt geht es dir ans Blut, Schnüffler!«
***
Suko stand in einer heißen, dampfenden Hölle und spürte die Gefahr, obwohl er sie nicht sah.
Alles war in diesem Wald anders. Er konnte ihn mit keinem anderen europäischen vergleichen. Das hier war ein mächtiges Stück Dschungel, das einfach nicht nach Irland gehörte, sondern nach Südamerika oder Asien.
Unbarmherzig brannte die Sonne vom Himmel und sorgte für diese alptraumhafte Hitze, die auch das Wasser nicht verschonte und dabei war, einen Teil von ihm zu verdunsten. Deshalb schaute Suko auch gegen die Dunstschleier, die zwischen den Bäumen hingen und dort in die Höhe stiegen, wo sich die zahlreichen Tümpel verteilten.
Er hatte es gut geschafft, den Fluß hinter sich zu lassen. Seine Kleidung war nicht so schnell getrocknet, es war einfach zu feucht, und Suko hatte seine Jacke übergestreift. Durch geschicktes Klettern hatte er den Bereich der mächtigen, mangrovenartigen Wurzeln hinter sich gelassen
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