Als könnt' ich fliegen
drehte sich zu mir um. Es war das allererste Mal, dass sie etwas hilflos auf mich wirkte.
»Der Sinn ist«, sagte ich, »dass es in der Eisdiele um die Ecke das beste Eis gibt, das du je gegessen hast.« Sie zögerte. »Ich schwör es dir.«
»Du bist ziemlich hartnäckig, oder?« Ein winziges Lächeln spürte ich mehr, als dass ich es sah.
»Keine Ahnung«, sagte ich. »Ich glaub, eher nicht.«
»Doch«, sagte sie, »bist du.« Sie ging in die Klasse. »Um halb zwei hab ich Schluss.«
Die Zeit bis halb zwei war im Schneckentempo dahingeschlichen. Als Milena und ich uns endlich an einem Tisch vor der Eisdiele gegenübersaßen, konnte ich kaum glauben, dass das jetzt die Wirklichkeit war. Schließlich hatte ich nicht nur die letzten Stunden auf diesen Augenblick gewartet, sondern musste sie am Ende auch noch von ihrer Freundin Lisa loseisen. Milena hatte geradezu darauf bestanden, dass sie mit uns in die Eisdiele kam. Für mich war es schwierig gewesen, etwas dagegen zu sagen. Ich wollte den Eindruck vermeiden, dass ich, koste es, was es wolle, mit ihr allein sein wollte. Glücklicherweise ließ Lisa sich nicht von Milena überreden. Vielleicht hatte sie die Situation erkannt.
Milena guckte andauernd auf die Uhr. Sie bestellte einen Eiskaffee, ich schloss mich an. Das Gespräch kam nur schleppend in Gang. Ich stellte ihr Fragen, sie antwortete. Mich schaute sie meistens nicht an, wenn sie sprach.
Ich erfuhr, dass ihr Vater Berufssoldat war und häufig versetzt wurde.
»Ich hoffe, das hört jetzt mal auf«, sagte sie. »Hier gefällt es mir ganz gut.«
Ich dachte, dass es schön wäre, wenn sie das auch ein kleines bisschen wegen mir gesagt hätte.
»Das Meer und so«, ergänzte sie und zog kalten Kaffee durch ihren Strohhalm. »Und ich glaub, Lisa wird eine ganz gute Freundin.«
Ich hätte gern gefragt, ob sie einen Freund hatte. Aber ich sagte nur: »Ja, sie ist nett.«
Unser Gespräch schien damit am Ende. Bestimmt zweiundachtzig Sekunden lang sagten wir beide kein Wort. Wir guckten aneinander vorbei auf die Nachbartische. Die Situation erschien mir völlig absurd. Nur dass ich keine Ahnung hatte, wie ich sie umbiegen könnte. Ich geriet fast in Panik, als sie auf die Uhr schaute. Ihr Gesicht schien zu sagen: Nun ist es aber Zeit. Ihr Glas war leer bis auf den letzten Tropfen. Wenn sie jetzt ging, würde ich mir den Rest meines Lebens nicht verzeihen können, was für ein fantasieloser Volltrottel ich war. In mir arbeitete es fieberhaft. Ihre Hand bewegte sich Richtung Handtasche. Worte mussten her, Worte.
»Was ist das eigentlich mit deinem Bein?« Kaum war die Frage draußen, durchlief eine Hitzewelle meinen Körper. War je ein Mensch so bescheuert wie ich? Ich hätte ihr sagen sollen, wie schön ihre Augen sind, welche Magie ihr Lächeln ausübt. Ich sah sie schon aufstehen und wortlos in der Menge verschwinden.
Dann geschah das Wunder.
Milena legte ihre Handtasche zurück. Sie schaute mich an, so intensiv wie vorher noch nie. Einen Moment lang vergaß ich, was ich gesagt hatte. Dann lächelte sie.
»Willst du das wirklich wissen?«, fragte sie. Ich nickte.
»Monospastik.« Sie ließ mir ein paar Momente Zeit. Dann grinste sie. »Noch nie gehört, oder?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Mach dir nichts draus«, meinte sie. »Das sind so Sachen, da hört man nie was von. Wenn man’s nicht zufälligerweise selbst hat.« Sie griff erneut nach ihrer Tasche. »Ich muss jetzt wirklich los«, sagte sie. »Danke für die Einladung.«
8
27. August, Dienstag, 1.30 Uhr
Danach haben wir noch zwei Stunden miteinander gequatscht. Auf einer Bank im Park beim großen Springbrunnen. Er wollte wirklich wissen, was mit meinem Bein los ist. Ich habe noch nie einen Jungen kennengelernt, der das wissen wollte. Echt noch nie!
Selbst Lisa hat mich das noch nicht gefragt. Und bei Lena damals hat’s bestimmt ein halbes Jahr gedauert, bis sie sich getraut hat. Und ich glaube, er hat nicht nur aus Höflichkeit oder Heuchelei oder so gefragt: Er meinte es wirklich ehrlich! Natürlich haben wir dann nicht die ganze Zeit über das Bein geredet. Mehr über alles Mögliche andere.
Hier im Zimmer ist es wieder unglaublich heiß. Ich hab noch kein Auge zugetan. Aber ich muss es versuchen. Sonst hab ich morgen schwarze Ringe unter den Augen.
Eins musste man Marlies lassen: Kochen konnte sie. Zwar kam nichts von dem, was ich je bei ihr gegessen habe, auch nur annähernd an die Spezialspaghetti von meinem Vater heran, aber
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