Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
nur in die Nähe kommen, ohne Zustimmung ihres Ehemannes –, aber warum sollte er Einwände erheben? Wußte er vielleicht etwas? Ob er letzte Nacht aufgewacht war, ihre Abwesenheit bemerkt und herausgefunden hatte, wo sie war?
Sie schauderte bei dem Gedanken an das, was er ihr antun könnte, wenn er argwöhnte, daß sie ihm untreu gewesen war. Sie hatte zahlreiche Geschichten darüber gehört, wie die Hansi die Frauen behandelten, die ihre Ehemänner betrogen hatten. Die glücklichen unter ihnen wurden gesteinigt, bis jeder einzelne Knochen in ihrem Körper gebrochen war, doch die meisten starben auf eine langsamere, wesentlich grausamere Art. Marrah war regelrecht übel vor Angst, aber sie hatte keine Möglichkeit, Stavan zu warnen. Er würde inzwischen wieder draußen bei den Hütejungen sein und den Idioten mit Stroh im Haar spielen. Wenn sie nicht zu Arang gehen konnte, war es unmöglich, ihn über den Fluchtplan zu informieren, und sie hatten nicht die Voraussicht besessen, ein Zeichen zu vereinbaren, das aus der Ferne zu sehen war.
Aber wie sich herausstellte, hatte sie sich umsonst Sorgen gemacht, oder eher: wegen der falschen Sache. Vlahan war nicht aufgewacht, und er hatte keine Ahnung, daß sie mit Stavan zusammengewesen war. Der Grund, weshalb er ihr nicht gestattet hatte, zu Zuhans Zelt zu gehen, hatte nichts mit ihr zu tun. An jenem Nachmittag begannen die zeremoniellen Trommeln zu dröhnen, und ein Bote eilte durch das Lager und rief alle Krieger zum Großen Häuptling.
Die Trommeln dröhnten den ganzen Tag über, während die Frauen ihrer Arbeit nachgingen, und feierlicher Gesang war hinter dem großen Ledervorhang zu hören, der die geheimen Rituale der Männer vor unwürdigen Blicken verbarg. Gegen Einbruch der Dämmerung erschien Changar persönlich, während er eine Reihe edler Pferde durch das Lager führte. Er trug seine Wolfsgewänder, und die grauenerregende Kette aus Shambah hing um seinen Hals.
»Heute wird wieder Blut im Schädelbecher sein«, sagte Timak, als er vorbeischritt, und wie gewöhnlich sollte sie recht behalten. Als es Abend wurde, wußten alle, einschließlich Marrah, daß dem Großen Han sieben Pferde geopfert worden waren und daß Zuhan, der Große Häuptling, seinen Enkel Arang, Sohn von Achan, zu seinem einen und einzigen Erben erklärt und Vlahan, dem Bastard, die Aufgabe übertragen hatte, sein Wächter und Vormund zu sein, bis er volljährig wurde.
Als Marrah die Neuigkeit hörte, ging sie ins Zelt, legte sich auf einen Stapel Felle und kehrte ihr Gesicht der Wand zu. Der Plan, den sie und Stavan ausgearbeitet hatten, würde jetzt nicht mehr funktionieren. Sie hatten ihre Chance um einige wenige Tage verpaßt. Sie dachte an Arang, wie er jetzt rund um die Uhr von Leibwächtern umgeben wäre, wie sein Essen vorgekostet und jede seiner Bewegungen überwacht würde. Die Enttäuschung über ihr Pech machte sie regelrecht krank.
»Steh auf«, befahl Timak und kam ins Zelt, um ihr einen Fußtritt zu verpassen. »Du hast dich gefälligst um das Feuer zu kümmern und Wasser zu holen, du faules Stück«, aber Marrah weigerte sich störrisch, sich zu bewegen.
»Laß mich in Ruhe«, knurrte sie. Sie brauchte Zeit zum Nachdenken, sich eine Möglichkeit zu überlegen, zu Arang zu kommen; sie mußte über tausend Dinge nachdenken, die nicht laut ausgesprochen werden durften. Timak war so verblüfft, daß sie vergaß, Marrah weitere Tritte zu versetzen. »Laß mich in Ruhe«, wiederholte Marrah, »sonst werde ich meinem Neffen erzählen, daß du mich mißhandelst.« Sie rechnete nicht damit, daß ihre Drohung irgendeine Wirkung zeigen würde, aber zu ihrem Erstaunen griff Timak nur nach ihrem Schal und eilte aus dem Zelt.
Nun, dachte Marrah, es sieht ganz danach aus, als hätte es einige Vorteile, die Tante eines zukünftigen Großen Häuptlings zu sein. Sie fühlte Triumph in sich aufsteigen, aber ihr Triumphgefühl sollte nur von kurzer Dauer sein. Nicht lange, nachdem Timak hastig verschwunden war, kam Vlahan von der Zeremonie zurück, stolz wie ein Häuptling in einem feinen neuen Gewand und einer Halskette aus Wolfszähnen. Wortlos zerrte er Marrah auf die Füße und schob sie in Richtung des Feuers.
»Hilf Timak, mein Abendessen zu kochen«, befahl er, und dann, nur um sicherzugehen, daß sie auch begriff, wer mit ihr sprach, schlug er sie so hart ins Gesicht, daß ihre Ohren schmerzten. Schweigend stolperte sie hinaus und tat, wie ihr befohlen, aber in jener Nacht, als
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