Altraterra. Band 1: Die Prophezeiung (German Edition)
getrieben. Jetzt wird das rote Volk aus Viriditas verbannt. Und ich bin mir sicher, es wird nicht lange dauern, bis wir gezwungen werden, die Schutzzone ganz zu verlassen.“ Anne sah ihn erschrocken an. „Aber das können sie nicht tun!“ – „Wir werden sehen, was sie tun können und was nicht“, sagte Miraj in düsterer Vorahnung.
Anne spürte, wie ihr die Tränen kamen. „Wie konnte Henri das nur tun? Zu den Schwarzmagiern überlaufen?“ Miraj legte ihr hilflos eine Hand auf den Arm, als er sah, dass sie weinte. „Anne, dein Bruder ist ein zutiefst unglücklicher Mann. Ich habe dir doch geschildert, wie seine Mitstudenten mit ihm umgegangen sind. Und wie er sich gefühlt haben muss, als er sieglos zurückkehrte. Er hat nur die Aussicht gesehen, die letzten zwei Jahre auf der Universität in Schimpf und Schande zu verbringen, seinen Status als Auserwählter zu verlieren und den Aufstieg eines anderen mit ansehen zu müssen. Als ihn die Schwarzmagier gefangen nahmen, werden sie ihm angeboten haben, zu sterben oder sich ihnen anzuschließen. Keine ganz einfache Wahl.“ Anne schnaubte. „Ich wäre lieber gestorben.“ Miraj schien unbeeindruckt. „Das sagst du jetzt. Aber du wirst noch merken: Wenn es wirklich um Leben und Tod geht, sind die Menschen bereit, fast alles auf sich zu nehmen.“
Anne blickte nun auf, die Tränen liefen ihr die Wangen hinunter. Sie schluchzte: „Diese Magier haben unsere gesamte Familie getötet. Unsere Mutter. Unseren Vater. Unsere Tante. Wie konnte er jemals darüber nachdenken, zu ihnen überzulaufen?“ Miraj nickte erst, dann nahm er sie in den Arm. „Sie haben ihm die Aussicht auf Macht geboten. Er wurde zum Anführer – über eine Gruppe verlotterter Menschen ohne Prinzipien, aber er wurde ein Anführer. Er hat vielleicht den Eindruck gehabt, dass dies seine einzige Chance ist, noch etwas zu werden und sich zugleich an den Grünmagiern zu rächen – und an allen Menschen, die ihn verraten und im Stich gelassen haben, wozu er auch mich zählen dürfte. Er hat sich ganz einfach für den falschen Weg entschieden.“
„Dass du noch so viel Verständnis für ihn aufbringen kannst“, schrie Anne nun beinahe. „Er ist ein Verräter. Ich kann und werde ihm das niemals verzeihen. Und wenn ich die Möglichkeit habe, werde ich ihn töten.“
Mirajs Arm zuckte zurück. Eindringlich sprach er auf sie ein. „Anne, das darfst du nicht. Dein Bruder hat auf der Grundlage von Gefühlen gehandelt - negativer, verletzter Gefühle. Aber er ist kein schlechter Mensch, er hat sich einfach nur geirrt. Unsere Gefühle sind nicht unsere Schwäche, sie sind unsere Stärke. Und entgegen allem, was dir die Grünmagier je beibringen werden und bereits gesagt haben, sind es unsere Gefühle, die uns stärker machen und die auch unserer Magie erst den letzten Schliff geben. Ich habe nie begriffen, dass sie das nicht verstehen wollen. Ihre Welt ist magisch und schön anzusehen, ja, sie ist so unkompliziert rational und gerade dadurch verführerisch. Aber eines ist sie nicht: vollkommen. Dein Bruder hat den falschen Weg eingeschlagen, weil man ihn im Stich gelassen hat. Er ist ein junger Mensch und muss noch vieles lernen – und vielleicht wird er das, wenn wir ihm eine Chance dazu geben. Wir sollten mit ihm reden und versuchen, ihn zur Vernunft zu bringen – alles andere würde ich mir nie verzeihen. Vielleicht verstehst du das nicht, weil du jung bist und dir die Welt der Grünmagier allzu verlockend erscheint. Aber eines Tages wirst du begreifen, dass jeder von uns an seiner Stelle sein könnte. Er hat den Tod nicht verdient.“
Anne verstand, dass Miraj Henri noch immer wie einen Sohn liebte und dass es für ihn noch schwieriger war als für sie, zu akzeptieren, was aus ihm geworden war. Und doch hatte er vielleicht recht – sie konnte nicht vollständig begreifen, was Miraj meinte und wie er in der Lage war, Henri zu verzeihen. Henri hatte nur einen Fehler gemacht. Aber dies war ja kein Fehler, der ihn allein betraf. Er hatte Menschen in Gefahr gebracht und schwer verletzt, er hatte die verraten, die ihn liebten und die er liebte. Er hätte darüberstehen und nicht nur an seine eigenen Gefühle denken sollen, schon viel früher, dann wäre das alles nicht passiert. Nein, Anne konnte ihm nicht so einfach vergeben. In ihren Augen war ihr Bruder ein Verräter. Und es war ihr gleich, wenn sie sich in diesem Fall auf die Seite der Grünmagier schlug.
„Du hast recht, Miraj, ich begreife
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