Am Dienstag sah der Rabbi rot
schreie vermutlich auch, und meine Frau heult. Und nach einer Stunde weiß ich nicht mehr als vorher auch. Schließlich beruhigen wir uns alle ein bisschen, und ich sage freundlich, leise und ruhig zu ihm: ‹Abner, ich beschuldige dich nicht. Ich frage nur; nicht weil ich neugierig bin, sondern weil ich helfen möchte. Willst du, dass ich mich an meinen Anwalt wende?›» Er klopfte mit den Fingerknöcheln auf die Tischplatte. «Hat der Tisch mir geantwortet? Das war seine Antwort. Kein Wort, als wäre er plötzlich taub und stumm. Er sitzt einfach da und lächelt so vor sich hin, als wär das alles sehr komisch, und dann sagt er endlich was. Was sagt er? Er sagt: ‹Ich glaub, ich hau mich in die Falle. Morgen kann es ein langer Tag werden.› Und dann steht er auf und geht ins Bett. Und meine Frau? Die fällt über mich her. Warum muss ich so mit ihm reden? Warum kann ich nicht an ihn glauben? Warum jage ich unseren Sohn fort? Sie kennen meine Frau, Gott schütze sie, für sie ist Abner unfähig, etwas Böses zu tun. Was er auch haben will: Gib es ihm. Was er auch tut: wunderbar. Wenn ich versuche, ihn ranzunehmen, zum Studieren zu bringen, zu einem verantwortungsbewussten Menschen zu machen, beschimpft sie mich, dass ich nur an ihm rumnörgle. Er war in der High School Klassenbester; wenn ich will, dass er im College gute Noten bekommt, was tue ich? Ich nörgle. Warum war er Klassenbester? Weil ich hinter ihm her war. Ich bin Geschäftsmann, und ich weiß, wie schwer es heute für einen jungen Mann ist, sich durchzusetzen. Wenn man nicht in ein renommiertes College geht, gilt man heute nichts. Also geht er nach Harvard. Das war schlecht? Das war Nörgelei? Und wenn er zu Hause gewohnt hätte, wie ich es wollte, und nicht im College, wie er es wollte, wobei seine Mutter ihn unterstützt hat, dann wäre er jetzt immer noch in Harvard. Und wäre das schlecht? Ich sage Ihnen, Rabbi, der Ärger mit den Kindern heutzutage ist der, dass ihre Eltern nicht nörgeln.»
Der Rabbi hatte ihn nicht unterbrochen, weil er spürte, dass Selzer reden wollte, aber jetzt brachte er ihn ganz schroff zum Thema zurück. «Was ist denn nun geschehen, Mr. Selzer? Warum sind Sie zu mir gekommen?»
«Heute Morgen», sagte Selzer ganz ausdruckslos, «sind die Bullen gekommen und haben ihn abgeholt. Wer waren die Bullen? Lieutenant Tebbetts, sein Pfadfinderführer, von dem Abner so viel geredet hat, dass ich fast eifersüchtig geworden bin. Der war der Vertreter der Bullen.»
«In dem Fall meine ich ja doch, Sie sollten sich mit Ihrem Anwalt in Verbindung setzen, Mr. Selzer.»
«Zwei Minuten!», rief Selzer. «Zwei Minuten nachdem mein Sohn aus der Tür war, hab ich Paul Goodman angerufen. Eine halbe Stunde später war er schon da – als ich anrief, war er noch nicht angezogen – und dann sind wir zusammen zum Polizeirevier gefahren.»
«Und?»
«Nichts. Mein Sohn wollte nicht mit mir sprechen und nicht mit Goodman. Nur: ‹Ach, du bist das.› Spricht so ein Sohn mit seinem Vater, Rabbi?»
«Was haben Sie denn gesagt?»
«Nichts! Ich hab mich vor Goodman geschämt und nicht gezeigt, dass ich wütend war. Ich hab ihn nicht angeschrien. Ich hab nichts gesagt, ihm nur mitgeteilt, dass dies Mr. Goodman, sein Rechtsanwalt, sei. Ich hab sie allein gelassen. Danach aber, als Goodman heraufkam – wir haben ihn in seiner Zelle im Souterrain besucht, wissen Sie – sagte er, der Junge hätte es abgelehnt, sich mit ihm zu besprechen.»
«Aber er will ihn trotzdem verteidigen?»
«Ja, sicher. Er hat ja nichts zu verlieren. Er kommt doch nicht ins Gefängnis.» Selzer stand auf, als Miriam hereinkam. «Oh, jetzt halte ich Sie vom Essen ab. Und dabei wollte ich Sie nur bitten, ihn zu besuchen. Reden Sie ihm Vernunft ein. Ich weiß, dass er sehr viel von Ihnen hält, seit er damals bei Ihnen im Unterricht war. Auf Sie wird er hören.»
«Er muss schrecklich verletzt worden sein», sagte Miriam, als Selzer gegangen war.
«Wie meinst du das? Von wem?»
«Na, von seinem Vater natürlich. Stell dir doch mal vor, es ginge das Gerücht um, du hättest etwas Schreckliches getan, etwas, das dir von innen heraus widerstrebte. Und dann stell dir vor, statt zu wissen, dass du so etwas überhaupt nicht tun könntest, fragte ich dich, ob das Gerücht stimmt. Es könnte sein, du erklärtest ganz geduldig, wie unmöglich das wäre. Andererseits aber könntest du auch so verletzt sein, vor allem wenn du jünger wärst, in Abners Alter, dass du gar nichts
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