Am Dienstag sah der Rabbi rot
Formalität. Soweit ich weiß, verlangt das Gesetz, dass Sie innerhalb von vierundzwanzig Stunden nach Ihrer Verhaftung dem Richter vorgeführt werden müssen.»
«Und wenn man unschuldig ist?»
«Das geht den Richter bei der Vorführung nichts an, Abner. Er hat nur zu entscheiden, ob die Polizei genügend Beweise hat, Sie in Haft zu halten und vor ein Schwurgericht zu stellen. Wenn die Polizei will, dass Sie in Haft bleiben, geht der Richter meistens darauf ein. Gut, das mit dem Anwalt kann ich verstehen, aber warum wollen Sie denn nicht mit Ihrem Vater reden?»
«Damit er mich anschreien kann? Wir können uns keine fünf Minuten unterhalten, ohne dass er schreit.»
«Weswegen schreit er denn?», fragte der Rabbi neugierig.
«Ach, über alles, meistens aber – bis jetzt wenigstens – über Noten. ‹Reiß dich zusammen›, sagt er dauernd. Oder – warum ich mich nicht zusammenreiße, oder manchmal: ‹Reiß dich am Riemen oder mach Schluss.› Als ich hier noch auf der High School war, fing’s an. Ich war gut auf der Schule, und die Väter von den anderen haben sich auch so aufgeführt. Aber in Harvard musste ich mit all den anderen guten Schülern konkurrieren, und ich hab nicht zu Hause gewohnt, wo er mich jeden Abend abhören konnte. C oder B minus war ihm nicht gut genug. Es mussten As sein. Eine Zeit lang hab ich mir Mühe gegeben, aber ohne Streben ging das nicht, und dann war ich’s leid.»
«Sie haben also gar nicht mehr gearbeitet?»
«Ja, warum nicht? Ich hab schwer geschuftet und B minus bekommen, aber das war ihm nicht gut genug. Da hab ich mir gesagt, wenn ich wie ein Mensch lebe und C oder C minus bekomme, kann’s auch nicht schlimmer werden.»
«Aber Sie hatten ein schlechtes Gewissen.»
Der junge Mann überlegte. «Ja, ich glaub schon, anfangs wenigstens. Jetzt nicht mehr.»
«Sind Sie sicher?»
«Ja, ganz sicher. Ich sag Ihnen was, Rabbi. Mein Vater hat sich nicht drum gekümmert, ob ich was gelernt habe oder nicht. Er wollte bloß gute Noten sehen, damit ich an einer guten juristischen Fakultät ankam und auch wieder gute Noten bekam, egal ob ich was lernte oder nicht. Es ging nur darum, dass ich in eine gute Anwaltsfirma eintreten konnte.»
«Ich denke mir, er will Sie auf das Leben vorbereiten, wie er es sieht.»
«Und warum ist es falsch, wenn man versucht, dieses Leben zu verändern?», fragte Selzer.
«Weil Sie es zum Schlechten verändern könnten», stellte der Rabbi ironisch fest. «Aber auf jeden Fall, und das geben Sie selber zu: Was Ihr Vater auch tut, ob er es nun richtig oder falsch macht, er tut es für Sie.»
«Rabbi», Abner wurde sehr ernst, «es wird Sie schockieren, aber wenn ich ehrlich bin, mache ich mir nicht viel aus meinem Vater. Ich achte ihn nicht –»
Als der Rabbi ihn unterbrach, war es aber Abner, der schockiert wurde. «Ach, das ist doch völlig normal.»
«Wie – was sagen Sie da?»
«Ich meine, ja. Darum ist es doch eines der Zehn Gebote. ‹Ehre deinen Vater und deine Mutter.› Wenn das so natürlich wäre, brauchte man doch nicht extra ein Gebot dafür, nicht wahr?»
«Na gut. Und warum sollte ich dann von jemand Hilfe annehmen, den ich nicht achte?»
«Weil es kindisch und dickköpfig wäre, Hilfe abzulehnen, wenn man sie braucht», sagte der Rabbi. «Sie bekommen einen Anwalt, ob Sie ihn haben wollen oder nicht. Wenn Sie keinen eigenen haben, stellt Ihnen das Gericht einen Verteidiger. Vielleicht ist er besser als Mr. Goodman, obwohl das nicht wahrscheinlich ist, bestimmt aber ist er weniger erfahren. Vernünftig wäre es, den Besten zu nehmen, den Sie bekommen können.»
22
Richter Visconte nickte leise beim Verlesen der Klageschrift. Als er die Blätter aus der Hand legte, fuhr sein Kopf zu nicken fort. – Er war ein alter Mann, weit über siebzig, mit schneeweißem Haar über einer hohen, schrägen Stirn. Sein gut geschnittenes italienisches Gesicht mit der langen Römernase sah gütig und großväterlich aus.
Er wandte sich an Bradford Ames. «Macht der Staat Massachusetts Vorschläge über die Frage der Kaution?»
«Der Staat hat einen Vorschlag, Euer Ehren», sagte Ames. «Der Staat ist der Ansicht, dass ein Mann in der Folge einer Bombenexplosion getötet worden ist und es sich daher hier um einen Mordfall handelt, bei dem eine Kaution nicht zugelassen werden sollte.»
Der Richter nickte heftig in offensichtlicher Übereinstimmung. Dann neigte er den Kopf und nickte in einem etwas abgewandelten Winkel, was der Beisitzer
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