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Am Ende der Nacht

Am Ende der Nacht

Titel: Am Ende der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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Gelegenheit nutzen, mal einen Blick reinzuwerfen, solange keiner da
ist.«
     
    Die Holzabfuhrstraße schien in
miserablem Zustand.
    »Ripinsky, das geht nicht!«
    »Das wird eine perfekte
Kurzpistenlandung; selbst die Windrichtung stimmt.«
    »Aber das da ist eine Geröllpiste.«
    »Wart’s ab.«
    Ich schloß die Augen, als die Cessna
auf die steinige, furchige Straße zuschwebte. Klammerte mich an der Sitzkante
fest, als Hy den Knüppel leicht anzog.
    Öffnete die Augen wieder und sagte:
»Angeber.«
    Die Holzabfuhrstraße verengte sich bald
zu einem roh freigeholzten Weg. Weiße Birken neigten sich von beiden Seiten
darüber, und ihre Äste trafen sich über uns wie das helle Kreuzgewölbe einer
Kathedrale. Selbst in dieser düsteren Spätnachmittagsstimmung schimmerte ihre
Rinde; ich hatte das Gefühl, einen bizarren, lichterfüllten Altargang
entlangzuschreiten. Der Weg war schneeverweht, und unsere Schritte knirschten.
Die Kälte war so grimmig, daß sie durch die Thermoleggings drang, die ich unter
meinen Jeans trug.
    Hy zeigte auf zwei Tierfährten, die den
Weg kreuzten. »Ein Reh«, sagte er, »und das da könnte ein Fuchs gewesen sein.«
    Er offenbarte immer wieder neue
Facetten seines Wissens, aber ich staunte jedesmal. »Seit wann bist du
Fährtenleser?«
    »Seit mich mein Dad in die
Anfangsgründe der Jagd eingeführt hat.«
    »Ich wußte gar nicht, daß du Jäger
bist.«
    »Ich war ewig nicht mehr auf der Jagd.
Ich hab’s nicht so mit blutigen Sportarten.«
    Wir stapften ein paar Minuten
schweigend dahin. Der Weg verengte sich noch weiter, da die Birken und
Strauchkiefern ihn wieder zurückeroberten. Ich roch den Nadelholzduft und
dachte wieder an die Weihnachtsbaumfarm und an Matty. Mein Verlustschmerz war
jetzt gedämpft, weil Hy und ich endlich etwas taten — für sie, für Ash Walker,
für Zach.
    Er legte mir die Hand auf die Schulter
und hielt mich zurück. Wir waren jetzt am Rand der Lichtung. Die Hütte war
klein, mit einer schmalen Vorderveranda, auf der eine Mülltonne mit
steinbeschwertem Deckel stand. Ein paar Meter dahinter standen ein Schuppen und
ein Klohäuschen, die aus der Luft nicht sichtbar gewesen waren, sowie ein durch
hohe Stelzen gegen zudringliche Tiere gesicherter Vorratsspeicher, und
ringsherum lag, zwischen Schneeflecken, der ganze Schrott und Müll: Ölfässer,
ein Ofenrohr, Sägeböcke, eine Leiter, Bauholzreste, eine kaputte Axt, Flaschen
und Dosen, ein rostiger Außenbordmotor.
    Hy hatte seine Pistole gezogen. Ich tat
es ihm nach. Er sah mich mit fragend hochgezogener Braue an, und ich nickte.
Rasch huschten wir zwischen dem Schrott hindurch zur Hütte, erklommen die
Eingangsstufen, preßten uns zu beiden Seiten der Tür flach gegen die Wand. Ich
griff um den Türrahmen herum und drückte auf die Klinke. Sie gab nach, und die
Tür schwang nach innen auf. Hy fummelte mit der linken Hand die Stablampe
heraus, die er aus der Maschine mitgebracht hatte, und leuchtete das Innere der
Hütte ab. Dann traten wir ein.
    Drinnen war es kalt, und es roch nach
altem Holzfeuerrauch und Essensdünsten. Die rohen Holzläden des einzigen Raums
waren geschlossen, die Wandritzen fest gegen Wind und Wetter abgedichtet. Das
Mobiliar war karg und schlicht: ein Brettertisch, ein schmales Bett mit dicken
Wolldecken, ein Holzherd, eine metallene Feldkiste, ein Kühlschrank.
Kleidungsstücke hingen an Wandhaken neben dem Bett; Geschirr, Küchenutensilien
und Vorräte füllten drei lange Borde beim Herd; Angelruten und Gewehre standen
säuberlich aufgereiht in einem Ständer an der Rückwand. Hy zündete die Öllampe
auf dem Tisch an, und ich ging nachsehen, was in der Feldkiste war:
Angelzubehör, Munition und Bestellkataloge für Eisenwaren und dergleichen. Auf
den Adreßetiketten der Kataloge standen der Name J. D. Wilson und eine
Postfachnummer in Ely. Als ich die Kiste wieder schloß und mich umwandte, sah
ich Hy an einem leeren Glas schnuppern, das neben einem Bücherstapel auf dem
Tisch gestanden hatte.
    »Sour Mash-Whiskey«, sagte er, »wie es
sich für einen Südstaaten-Gentleman gehört.«
    »Was er wohl liest, während er seinen
Drink schlürft?« Ich ging zum Tisch und fühlte die Temperatur eines Riesenkrugs
Milch, der dort stand: nicht nötig, ihn in den Kühlschrank zu stellen.
    Hy gab einen merkwürdigen Laut von
sich. Ich schaute auf und sah, daß er eins der Bücher in der Hand hielt.
Wortlos drehte er mir das Cover hin. Es war ein Buch über die Ökologie

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