Am Ende zählt nur das Leben
erkannte ich ihn wirklich kaum wieder. Lass mich, ich bin müde, war ein Satz, den ich fast täglich hörte. Und wenn sein altes Ich für eine Weile wieder in den Vordergrund trat, dann nörgelte er an mir herum: »Sitz doch mal gerade, deine Körperhaltung ist extrem schlecht. Und kannst du nicht mal den Löffel zum Mund führen anstatt deinen Mund zum Löffel? Das sieht wirklich unmöglich aus. Deine Kinderstube war mangelhaft.«
»Cay, kannst du nicht auch mal aufstehen und dich um Sarah kümmern?«
»Nee, mach du das mal, du kannst es ohnehin viel besser.«
Und so war es dann auch. Ich war stets diejenige, die sich kümmerte. Es war nicht so, dass mich diese Aufgaben belasteten, aber ein harmonisches Familienleben stellte ich mir anders vor. Bei anderen Paaren klappte es doch auch, die Kinderbetreuung aufzuteilen und sich gegenseitig zu unterstützen. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, er würde mehr Interesse an Sarah finden, wenn sie kein Kleinkind mehr wäre und ihn auf den Tennisplatz begleitete. Sehr gern wollte ich ein zweites Kind, weil Einzelkinder mir irgendwie leidtaten. Es kam mir unnatürlich vor, ein Kind ohne Geschwisterchen aufwachsen zu lassen. Es mussten nicht gleich vier sein wie bei meinen Eltern, aber zwei wären mein Wunsch. Doch es schien mir nicht der richtige Zeitpunkt zu sein, Cay darauf anzusprechen. Er war schon jetzt überfordert und musste erst wieder der Alte werden. Hoffentlich passierte das in naher Zukunft.
Zwischendurch gab es auch immer wieder Tage, an denen er sich normalverhielt und seine lustige Seite zum Vorschein kam. Ebenso unvermittelt verschanzte er sich dann wieder hinter seiner Antriebslosigkeit. Manchmal waren mir seine Stimmungsschwankungen regelrecht unheimlich. Ich wusste nie, woran ich bei ihm war.
In meiner Ratlosigkeit schob ich alles auf die Tatsache, dass er sich noch nicht in seine Rolle als Vater eingefunden hatte. Ganz offenbar behagten ihm die Pflichten nicht, die mit dem Aufziehen eines Kindes einhergingen. Wie sonst sollte ich mir ein solches Verhalten erklären?
Seine vor Wut funkelnden Augen bekam ich wenig später erneut zu sehen. Nach einer harmlosen Armoperation trug er eine Gipsschiene, die ich regelmäßig für ihn wechselte. Einmal stieß ich dabei unglücklich an seinen Ellenbogen. Er ging förmlich an die Decke.
»Bist du wahnsinnig geworden? Ich dachte, du bist eine professionelle Arzthelferin. Was hast du überhaupt gelernt? Das hätte sogar Petra besser gemacht«, fauchte er mich an.
Dabei muss seine Wut stärker gewesen sein als der Schmerz, denn nun packte er mich sogar am Oberarm und drückte so fest zu, dass es schmerzte.
»Cay, was tust du da? Ich habe es nicht mit Absicht getan. Entschuldige bitte! Das ist doch kein Grund, so auszuflippen. Aua, das tut verdammt weh«, sagte ich und griff an meinen Arm. Wie konnte er mich derart fest anpacken?
»Du musst aufpassen, was du tust. Fuchtelst hier rum ohne Rücksicht auf Verluste. Ist ja nur dein Mann, der die Höllenschmerzen ertragen muss.«
»Mir schmerzt der Arm jetzt auch. Was soll das? Wenn du mich noch einmal so fest anfasst, dann bin ich weg. Ich meine es ernst!«
Mir schien es, als lägen seine Nerven blank.
Am nächsten Tag fragte ich ihn möglichst unverfänglich nach seiner Arbeit. Hatte er vielleicht Probleme beruflicher Natur, die ihn über Gebühr belasteten?
»Wie läuft es eigentlich in der Firma?«
»Bestens, wie immer.«
Inzwischen war Cay befördert worden und verantwortlich für noch mehr Mitarbeiter. Trotzdem zeigte er sich in finanzieller Hinsicht manchmal regelrecht knauserig und verlangte von mir genaue Auskünfte über meine Einkäufe. Das war seltsam, denn auf der anderen Seite gab er sein Geld äußerst bereitwillig aus. Ich verstand ihn einfach nicht. Wie sollte es mit uns weitergehen? Die ganze Situation war zunehmend unbefriedigend. Mir schien es fast so, als lebten wir verschiedene Leben. Ich das Leben mit meinem Kind und er ein arbeitsreiches und ermüdendes Leben, das ihm Stimmungsschwankungen bescherte.
Immer wenn ich meine Eltern oder meine Schwestern anrief und von meinen Sorgen berichtete, hörte ich die gleichen Kommentare: Komm zurück nach Hause! Bei meiner Mutter klang dieser Satz beinahe ängstlich.
Hochzeitstag
Unseren Hochzeitstag wollte Cay unbedingt in Kitzbühel verbringen. Dort fühlte er sich besonders wohl, wie er gern betonte. Die Atmosphäre im mondänen Alpenort war so ganz nach seinem Geschmack. Hier verbrachte er
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