Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)
sagte, er war’s nich.«
»Und weißt du, wo sich dieser Mr Reeve jetzt aufhält?«
»Ich habe gehört, er ist in den Junggesellenzimmern in der Elizabeth Street untergekommen.« Albert sah wieder auf seine Füße. »Wenn Sie sie treffen, sagen Sie ihr dann bitte Grüße von mir?«
»Das mach ich.« Michael streckte ihm die Hand hin, und Albert schüttelte sie fest. Dann drehte sich der Junge um und spazierte den Strand entlang zurück. Er erinnerte Michael an jemanden. Es dauerte eine Weile, dann begriff er, dass Albert ihn an sich selbst in diesem Alter erinnerte.
54
K AMMGARN
Antonia stieg die letzten paar Stufen zum Gebäude des London Globe hinauf und merkte, wie ihre Nervosität wuchs. Sie war sich sicher, dass es sich bei Mr Dillons Einladung nicht um eine Höflichkeitsgeste handelte. Er war kein Mann der Etikette.
Trotzdem war es eine Erleichterung, das Chaos der Fleet Street hinter sich zu lassen. Vor der Paketabgabestelle hatte es einen richtigen Tumult gegeben, weil ein Wagen umgekippt war, nachdem er aus Temple Bar durch den Torbogen gekommen war. Ein einzelner Wachmann versuchte erfolglos eine Bande geschäftstüchtiger Straßenkinder davon abzuhalten, sich mit den Paketen aus dem Staub zu machen.
In der Eingangshalle des Gebäudes herrschte jedoch nicht die heilige Stille, die Antonia erwartet hatte. In alle Richtungen schienen Gänge abzuzweigen, und Botenjungen und Schreiber sausten, mit Setzkästen, Papier oder riesigen Bestandsbüchern auf dem Arm, an ihr vorbei. Gelehrt wirkende Männer mit buschigen Backenbärten und Stumpen standen in kleinen Grüppchen an den Enden der Gänge zusammen. Alle schienen extrem wichtig zu sein und es sehr eilig zu haben.
Antonia hockte sich auf die Kante einer Bank und strich die Falten ihres Rocks glatt. Seit vor ihrer Ehe hatte sie kein Kammgarn mehr getragen. Und sie hatte festgestellt, dass es sie dann doch aufmunterte, sich kleinen Eitelkeiten hinzugeben.
»Guten Morgen, Mrs Blake.« Antonia zuckte zusammen. Mr Dillon lächelte sie an. Sein Cutaway-Mantel war ein wenig dramatisch und sein langes Haar zurückgebunden. Er wirkte mehr wie ein Dichter denn wie ein Journalist.
Er senkte die Stimme: »In diesem Gebäude haben die Wände immer Ohren, aber es gibt ganz in der Nähe ein ruhiges Plätzchen.«
Antonia stand auf, erleichtert, dass sie den Ort so schnell wieder verlassen durfte. »Dann gehen Sie doch voraus.«
Das Gedränge der Fleet Street riss sie sofort mit sich, an den verlockenden Schaufenstern der Buchbinder, Schreibwarengeschäfte und Händler vorbei, die alle erdenklichen Güter anboten, von Sekretären und Sammlungen bis hin zu edlen Tintenfässern und altmodischen Schreibfedern. Antonia wandte den Blick vom verführerischen Glanz eines in Lackleder gebundenen Rechnungsbuches ab.
Mr Dillon schritt ohne einen Seitenblick voraus, doch er schien ihre Stimmung zu spüren. »Fleet Street kann eine Qual für den Geist darstellen«, sagte er. »Haben Sie etwas dagegen, eine Kirche zu betreten, Mrs Blake?«
»Ist das unser Ziel?«
»Es erscheint passend. Der Orden, der diese Kirche erbaut hat, teilte Interessen mit Ihrem Glauben.« Sie durchquerten nun Temple Bar. Er konnte nur eine Kirche meinen. »Ich weiß wenig über die Templer«, sagte sie vorsichtig. Er sah sie überrascht an.
»Wurden nicht auch sie wegen ihrer Unabhängigkeit und ihres Wohlstandes verfolgt? Soweit ich weiß, war diese Kirche eine Art Aufbewahrungsbank und gleichzeitig Residenz für Könige auf Besuch und ein Ort des Gebets. Das klingt für mich sehr nach Quäkertum! Der Ort hat etwas erfreulich Praktisches und Unheiliges an sich«, schloss er mit einem Seitenblick auf Antonia, um zu sehen, ob er sie überzeugt hatte.
Sie lächelte. »Dann kann ich guten Gewissens eintreten.«
Mr Dillon nickte. »Ich kann in Ihrem Glauben einige Logik erkennen, Mrs Blake. Ich schätze, er lässt sich von Ritualen und Dekoration nicht … allzu leicht beeindrucken. Aber liegt nicht auch eine unschuldige Freude in der Prahlerei, die nicht von der Gottesfurcht ablenkt?«
Antonia seufzte. Wie konnte er wissen, dass genau dies sie beschäftigte? »Ich stelle fest, dass es nicht möglich ist, die materielle Welt zu ignorieren, Mr Dillon, vor allem nicht für mein Geschlecht. Das weibliche Auge sucht nach Details und Harmonie. Das Quäkertum jedoch ist eher eine Reise ins Innere denn ein Zurschaustellen der äußeren Hingabe.«
»Aber Sie stellen doch Ihre eigene Hingabe in der
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