Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)
offensichtlich Euston näherten. Die Vorfreude auf das Wiedersehen mit Ryan hob Rhias Stimmung wieder. Seine Lebendigkeit war immer ansteckend und seine kostspieligen Gewohnheiten beruhigend. Wann immer ihr Onkel nach Dublin gekommen war, hatte er Seide aus China, Spitze aus Frankreich und Wein aus Portugal mitgebracht. Er konnte sie zum Lachen bringen, ein Elixier, das im Haushalt der Mahoneys seit längerem fehlte. Falls es möglich war, Mahoney-Leinen zu neuem Leben zu erwecken, dann würde Ryan wissen, wie.
Rhia wünschte sich jetzt, sie hätte sich in der vergangenen Nacht doch die Mühe des Auskleidens gemacht, denn ihre Rippen waren ganz wund von den Stäbchen ihres Korsetts. Sie richtete sich auf und begutachtete ihr Haar in dem fleckigen, ovalen Spiegel unter der Gepäckablage. Es war immer noch einigermaßen geflochten und benötigte lediglich ein paar korrigierende Haarnadeln. Dann wusch sie sich in dem winzigen Becken das Gesicht und wechselte die Schuhe: Ihre festen Schnürstiefel tauschte sie gegen die eleganteren, geknöpften Stiefelchen, die sie in ihrer Reisetasche transportiert hatte. Diese liefen spitz zu und hatten einen hübschen Absatz. Sofort fühlte sie sich besser. Sie war bereit.
Als sie sich wieder hingesetzt hatte, betrachtete sie die Reisetasche zu ihren Füßen. Vermutlich würde Thomas’ Geschenk das Heimweh heraufbeschwören, das sie so angestrengt zu verdrängen suchte. Früher oder später jedoch würde sie es öffnen müssen. Also kramte Rhia in der Tasche herum und zog das rechteckige, verschnürte braune Päckchen hervor. Sie legte es auf den Schoß und holte tief Luft. Sogleich wünschte sie jedoch, sie hätte es nicht getan. Es lag ein schwefliger, verfaulender Gestank in der Luft. Als sie die Papierverpackung abgestreift hatte, kam ein kunstvoll gewebtes Stück Stoff zum Vorschein. Rhia entfaltete es mit angehaltenem Atem. Sofort war ihr klar, worum es sich handelte. Ihre Knie waren von einem Stück feinstem Chintz bedeckt. Der Stoff war makellos gewebt und so farbenfroh, dass er auf ihrem Reisekostüm aus grünem Alpaka wie ein botanischer Garten leuchtete. Das Muster war ihr schmerzhaft vertraut, denn es war ihr eigener Entwurf von vor langer, langer Zeit, als sie noch an Feen und Elfen glaubte und nichts gegen Geister hatte. Sie hatte wochenlang daran gearbeitet, um ihn zu perfektionieren, ehe sie ihn Thomas zum Geschenk machte. Er hatte den Entwurf für sie gewebt. Sie war völlig überwältigt. Das Muster bestand aus verzweigten Ästen, die mit goldenen Früchten und Vögeln in der Farbe von Juwelen beladen waren. Es sollte die Anderswelt darstellen, wo Rhiannons magische Vögel die Toten erweckten und die Lebenden in den Schlaf wiegten.
Thomas hatte etwas auf ein Stück des steifen Papiers geschrieben, das sie zum Aufwickeln des Garns benutzten:
Anam Cara,
Vergiss nicht, wer Du bist.
Thomas Kelly
Er gab sich gern geheimnisvoll. Außerdem, wie konnte sie etwas vergessen, was sie selbst nicht wusste? Rhia packte den Chintz vorsichtig in ihre Reisetasche. Sie war glücklich, einen solchen Freund zu haben, selbst wenn es oft mühsam war. Aber sie hätte Thomas nicht geheiratet, trotz allem was sie ihrem Vater gegenüber behauptet hatte. Denn als sie nackt auf dem stachligen Waldboden gelegen hatten, wollte sie nicht von ihm berührt werden. Bedauerlicherweise hatte sie ihm das auch gesagt. Danach hatte Thomas den ganzen Sommer nicht mehr mit ihr gesprochen. Es hatte nicht nur damit zu tun, dass sie die Tochter eines Geschäftsmanns und er ein Weber war. Sondern sie stammten wie Rhiannon und Pwyll in anderer Hinsicht aus verschiedenen Welten. Sie wussten beide, dass Rhia in einem so einfachen Leben nicht glücklich werden würde, und Thomas machte kein Geheimnis daraus, dass er sie für verwöhnt hielt.
Sie dachte an William O’Donahue. Hätte sie seine Berührung gewollt? Nein, auch nicht. Seine guten Manieren und seine Gewandtheit hatten sie für ihn eingenommen. Was war sie doch für eine Närrin gewesen. Wenigstens konnte sie bei Thomas so sein, wie sie war, so schlecht gelaunt, verrückt oder wissbegierig, wie ihr gerade zumute war. William hatte keinen Wert auf ihre verfluchte Neugier gelegt. Sie zitterte bei dem Gedanken daran, dass sie beinahe einen Mann geheiratet hätte, der nur ein starres Lächeln unter einer teuren Haube haben wollte.
Die Lokomotive schnaufte durch die nördlichen Teile Londons. Die Slums waren Häuserreihen aus rotem Backstein gewichen,
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