Am Rande des Abgrunds: Thriller (German Edition)
nicht, ob er mitkriegte, was gesprochen wurde. Rachel beugte sich hinüber und wischte ihm die Soße vom Gesicht, was Keisha an das Pflegeheim erinnerte und daran, dass er mit seinen Pantoffeln und seinem alten Pullunder gut dahin gepasst hätte. Aber nein, er war ja hier, bei seiner Familie.
»Keisha, Schätzchen, nimm dir noch etwas Reis. Du bist ja nur ein Strich in der Landschaft. Was würde die liebe Mercy dazu sagen? Gott hab sie selig.« Mrs Johnson hob den Blick Richtung Himmel.
»Wer ist denn die Frau?« Das kleine Mädchen hatte Keisha schon die ganze Zeit angesehen, und jetzt schimpfte ihre Mutter sie aus, während sie dem kleinen Jungen, der jünger war, einen Löffel Pastetchen hinhielt. »Tia, halt den Mund. Los, Ricky, aufessen.« Ricky – nach seinem verstorbenen Großvater benannt – war stiller als seine Schwester und spähte hinter seinem SpongeBob-Lätzchen hervor.
»Wer sie ist?«, entgegnete Mrs Johnson und schob Keisha noch mehr Brot hin. Sie selbst schien kaum etwas zu essen, schien nur damit beschäftigt, ihrer Familie weitere Köstlichkeiten aufzuladen. »Sie ist unsere Freundin. Der Herr hat ihre Mummy heimgerufen, und darum isst sie heute bei uns.«
Tia glotzte immer noch. »Hat sie ein Kind?«
Da sahen alle Keisha an, und sie schluckte schnell ihr Essen hinunter. »Äh … ja, Tia. Ich habe eine kleine Tochter. Sie ist fünf. Wie alt bist du?«
Tia hob stolz den Kopf. »Fünfeinhalb.« Alle lächelten. Pappy tätschelte das geflochtene Haar des kleinen Mädchens. »Und wo ist deine Tochter?« Tia war immer noch neugierig und genoss die Aufmerksamkeit.
Mist. Keisha legte die Gabel hin. »Tja, nun, sie ist gerade bei anderen Leuten, die sich um sie kümmern.« Und dann hörte sie sich sagen: »Aber sie wird bald wieder bei mir zu Hause sein.« Als sie den Blick wieder hob, bemerkte sie, dass Ronald sie aufmerksam ansah. Wieso mussten diese netten Leute erfahren, dass man ihr das Kind weggenommen hatte?
Tanika fragte ganz behutsam: »Wie heißt sie denn, deine Tochter?«
»Ruby.«
»Hübscher Name.« Sie lächelte.
Tia gierte immer noch nach Aufmerksamkeit. »Onkel Ronald, guck mal, was ich kann.« Sie schnippte mit ihrem Löffel ein wenig Reis auf den Tisch.
»Ach, Tia«, sagte ihre Mutter müde. »Wann benimmst du dich beim Essen endlich mal anständig?«
Ronald legte seine Gabel hin. »Komm, aufstehen.«
»Neiiin!«
»Los.« Er warf sich Tia über die Schulter, die strampelte und schrie: »Nein, nein! Ich bin ja brav!«
»Tut mir leid«, sagte Tanika leise. »Ihr Vater ist kürzlich verstorben. Er fehlt ihr.« Sie sah zu dem großen Foto von Anthony Johnson hinüber, das auf der Anrichte stand. »Ich weiß nicht, wie ich ihr beibringen soll, dass er nicht mehr wiederkommt.«
»Ach, Mum «, seufzte Rachel. Mrs Johnson war in Tränen ausgebrochen und tupfte sich die Augen mit einem Geschirrhandtuch, auf dem die Queen abgebildet war. Rachel verdrehte die Augen, während sie ihrer Mutter die Hand tätschelte. »Können wir denn nicht einmal zu Abend essen, ohne dass es Tränen gibt?«
Keisha starrte auf ihren Teller hinab. Welches Recht hatte sie, hier zu sein, mit all ihren eigenen Problemen? Das hier waren anständige Leute. Das Einzige, was mit den Johnsons nicht stimmte, war, dass Anthony ums Leben gekommen war. Und hier saß sie, die bis zum Hals in der Scheiße steckte, bei ihnen mit am Tisch. »Entschuldigung, ich sollte jetzt wirklich gehen.« Sie versuchte aufzustehen, schlug sich aber an einem Tischbein das Knie.
»Kommt nicht in Frage! Nicht vor dem Kuchen!«, sagte Mrs Johnson, die versuchte, ihre Tränen zu bändigen. »Rachel, bist du mal so gut?«
»Ich muss jetzt wirklich los! Wenn du mich schon zwingst, da zu arbeiten, sollte ich wenigstens einigermaßen pünktlich sein.« Rachel war ebenfalls das, was Mrs Suntharalingam als freches Ding bezeichnet hätte.
»Dein Bruder fährt dich hin. Ronald! Ronald! Bringst du Rachel zum Club?«
Ronald kam wieder herein, und Tia trottete fröhlich vor ihm her. »Wie bitte? Und jetzt entschuldigst du dich, Tia.«
»’schulligung!« Das kleine Mädchen strahlte. »Wo ist mein Kuchen?« Ihr kleiner Bruder hatte bereits klebrige Krümel im Gesicht und an den Händen, und Keisha widerstand dem Drang, sie fortzuwischen. Eben in diesem Moment beugte sich Tanika über ihn und erledigte das.
»Ich fahr erst noch zum Sportstudio«, erwiderte Ronald. »Sie kann die U-Bahn nehmen, wie das übrige Personal auch.«
»Du immer
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