Am Rande des Abgrunds: Thriller (German Edition)
sah sie noch etwas anderes dort liegen: einen Scheck. Als sie den Betrag sah, hoben sich ihre Augenbrauen. »Char? Wo steckst du denn?«
»Hier!«, klang es gedämpft aus dem Schlafzimmer.
Keisha ging hinein. Sie hatte Charlottes Schlafzimmer noch nie betreten, war sich aber ziemlich sicher, dass es dort nicht immer so aussah. Auf dem Bett und dem Boden lagen jede Menge Klamotten. »Ziehst du aus?«
Charlotte blies sich die Haare aus dem geröteten Gesicht. »Ich verkaufe einige Sachen, wie du vorgeschlagen hast.«
Das war doch ihr Hochzeitskleid da, in der langen weißen Verpackung. »Woher hast du denn diesen Scheck?«
Charlotte drehte sich um, einen Rock über dem Arm, und streckte die Hände aus. Sie waren nackt, die Nägel kurz geschnitten.
»Scheiße! Dein Ring! Alles okay mit dir?«
»Ja, klar. Wie du gesagt hast: Es ist doch nur Schmuck.« Charlotte kramte weiter in dem Schrank und warf Sachen hinter sich: Jeans, Pullover, T-Shirts.
»Char?«
»Mir geht’s gut!« Aus dem Kleiderschrank drang ein leiser erstickter Laut.
»Komm, lass es raus.«
Sie kam wieder hervor. Ihr Gesicht war ganz nass von Tränen. »Ich bin okay. Ich kann bloß einfach nicht aufhören zu weinen.«
»Hey, hör mal, ich hab einen Job. In dem Club, wie du vorgeschlagen hast. Ich kann zur Probe anfangen, haben sie gesagt.«
»Echt?« Das wirkte: Sie lächelte, immer noch unter Tränen. »Das ist ja großartig!«
»Ich hab den Bruder kennengelernt, Anthony Johnsons Bruder. Er leitet jetzt den Laden. Er … na ja, er scheint ein netter Typ zu sein.« Sie dachte daran, wie sich seine Muskeln gespannt hatten und wie er darauf angesprungen war, als sie seinen Bruder erwähnt hatte.
»Der hatte einen Bruder? Nein, erzähl’s mir nicht, ich könnte das nicht ertragen. Ich muss mich auf Dan konzentrieren.«
»Ja, die hab ich heute alle getroffen. Mutter, Schwester, Bruder, Opa …«
»Hör auf.« Charlotte wischte sich mit einem T-Shirt übers Gesicht. »Ich darf gar nicht daran denken. Dann gehst du da also hin und schaust mal, was du rausfinden kannst?« Auf ihrem Gesicht zeigte sich ein unsicheres Lächeln. »Das könnte der Durchbruch sein. Dann könnten wir vielleicht beweisen, dass Dan es nicht war?«
Keisha dachte an Ronalds Gesichtsausdruck, die Wut und die Trauer über den Mord an seinem Bruder, brachte es aber nicht übers Herz, Charlotte ihre Hoffnungen zu nehmen. »Ja, vielleicht. Komm, ich mach uns einen Tee. Ich hab so viel Kuchen mitgebracht, da kannst du essen, bis du platzt.«
Die Dinge gingen ihren Gang. Es war nun schon Sommer, und Dan saß seit fast einem Monat im Gefängnis. Ruby war Keisha vor einem Monat weggenommen worden, richtig weggenommen. Ihre Mutter war unter der Erde, Anthony Johnson ebenso. Innerhalb weniger Wochen hatte sich so viel geändert, es war wie bei einem dieser Bilder, die man umdrehen und schütteln konnte.
Bei Ruby begannen bald die Sommerferien, so dass sich Keisha nicht mehr heimlich am Eingang ihrer Schule herumdrücken konnte. Wenn Ruby später zurückblicken würde, wäre das vielleicht der erste Sommer, an den sie sich richtig erinnern konnte, der Sommer, als sie fast schon sechs Jahre alt war und statt bei ihrer Mutter bei fremden Leuten lebte. Keisha versuchte, es zu verhindern, aber manchmal dachte sie doch daran, was Sandra gesagt hatte. Adoption. Stimmte das? Wenn sie sich von Ruby fernhielt, um sie damit zu schützen, bestand dann tatsächlich die Gefahr, dass sie sie endgültig verlor?
Wenn man seine Mutter nur bis zum fünften Lebensjahr gekannt hatte, erinnerte man sich dann später überhaupt an sie? An ihre Oma würde sich Ruby nicht groß erinnern, trotz all der Liebe, der gemeinsamen Stunden vor dem Fernseher, der Süßigkeiten und der Küsse. Manchmal lag Keisha einfach nur da und dachte an all diese Dinge, wenn sie in dem kleinen Zimmer bei Charlotte erwachte, wo ihre Sachen in einer Ecke lagen, neben Charlottes Bügelbrett und irgendwelchen Aktenordnern und einem Hantel-Set, das Dan gehören musste. Charlotte hatte so viel Zeugs, das musste sich anfühlen, als würde man den ganzen Tag einen Riesen-Koffer mit sich rumschleppen. Als könnte man nie einfach weggehen und das alles zurücklassen: das Laura-Ashley-Sofa und die Maschine, mit der man doch tatsächlich selbst Nudeln machen konnte. Leute wie Charlotte und Dan und ihre Freunde, dachte Keisha, kamen offenbar tatsächlich in ihrem Leben an einen Punkt, an dem sie nicht mehr wussten, wohin mit ihrem ganzen
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