Am Sonntag blieb der Rabbi weg
Schwager, Harvey Kanter, war zehn Jahre älter als er. Im Privatleben war er Atheist und in seinen Ansichten radikal und respektlos; in der Öffentlichkeit gab er sich als Chefredakteur der Lynner Times-Herald konservativ und trat als zäher Verteidiger der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse auf. In seinen Leitartikeln trat er für Gesetz und Ordnung, Buchzensur und Schulgebet ein und polemisierte gegen Hippies, Studentenrevolten und Gefängnisreformen. Er war ein hoch gewachsener, schlaksiger Mann, dessen graue Haare immer so aussahen, als sei er zu ungeduldig, sie zu kämmen. Alles an ihm wirkte ungeduldig. Er war das reinste Nervenbündel. Keinen Augenblick konnte er ruhig sitzen; er war fahrig und nervös, sprang immer wieder auf und wanderte im Zimmer auf und ab, und wenn er einmal saß, rutschte er auf dem Stuhlrand hin und her.
Seinen Schwager nahm er nie ganz ernst, und seine Frau behandelte Mrs. Gorfinkle, ihre jüngere Schwester, immer ein bisschen von oben herab. Trotzdem nahmen die Gorfinkles ihre Einladungen immer an, teils aus purer Gewohnheit, teils weil Ben Gorfinkle an den Diskussionen mit seinem Schwager ein perverses Vergnügen fand.
Nach dem Essen saßen die beiden Männer im Wohnzimmer, während die Frauen den Tisch abräumten und das Geschirr spülten. Kanter biss das Ende einer Zigarre ab, zündete sie umständlich an und sagte schließlich:
«Ach, übrigens – dieser Tage habe ich euren Rabbi kennen gelernt … Hab ich dir das schon erzählt?»
«Nein», antwortete Gorfinkle vorsichtig. «Wann denn?»
«Vor ungefähr einer Woche. Er war bei einer Veranstaltung der Handelskammer als Gastredner eingeladen.»
«Nanu? Ich dachte, du gehst da nie hin?»
«Jemand von der Redaktion musste schließlich, und es ergab sich irgendwie, dass es an mir hängen blieb … Gar nicht übel, der Mann.»
«Worüber hat er gesprochen?»
«Gott – so das Übliche … Die Stellung der Synagoge in der heutigen Welt. In den letzten sechs Monaten hab ich sicher ein Dutzend Geistliche aller möglichen Bekenntnisse anhören müssen. Alle sprachen sie unweigerlich über die Stellung der Kirche – in diesem Fall der Synagoge – in der heutigen Welt … Ich denke mir, sie reden so viel darüber, weil sie insgeheim nicht viel von der Sache halten. Na ja. Aber was euer Rabbi gesagt hat, das klang eigentlich ganz vernünftig.»
«So? Was hat er denn gesagt?»
«Es lief auf die Feststellung hinaus, dass unsere zivilisierte Welt heute endlich dieselben Ziele verfolgt, die die jüdische Religion seit Jahrtausenden predigt – soziale Gerechtigkeit, Bürgerrechte, Rechte der Frau – na, und so weiter. Mit anderen Worten, er meint, nach ein paar tausend Jahren kommt die jüdische Religion allmählich in Mode.»
«Sehr interessant … Zufällig habe ich mich vorhin mit ihm mehr oder weniger über dasselbe Thema unterhalten. Allerdings vertrat er mir gegenüber eine ganz andere Meinung. Manche Leute haben anscheinend die Begabung, so oder so zu argumentieren – je nach Bedarf.»
«Ich hatte eigentlich nicht den Eindruck, dass er von dieser Sorte ist», meinte Kanter. «Worum ging es denn?»
«Ach, unser Problem in der Gemeinde … Es haben sich zwei Gruppen gebildet, zwei Fraktionen, könnte man sagen – meine und die, na, Opposition, angeführt von Meyer Paff … du kennst ihn.»
«Ja, ich kenne ihn.»
«Unsere Gruppe möchte erreichen, dass sich die Synagoge politisch engagiert – Bürgerrechtsbewegung und so, ja? Paffs Gruppe findet jedoch, der Tempel sei ein Ort, wo man an den Feiertagen und an Freitagabenden betet; weiter nichts. Nun bin ich dahinter gekommen, dass sich der Rabbi mehr oder weniger öffentlich für Paff eingesetzt hat. Na, und da hab ich ihm halt die Leviten gelesen.»
«Und? Wie ist es ausgegangen?»
«Ich habe ihm klipp und klar zu verstehen gegeben, dass wir das nicht dulden werden – und wir sind eindeutig in der Mehrheit.» Er beugte sich im Sessel vor: «Weißt du, was er gemacht hat? Er hat die jungen Leute aufgehetzt. Er hat ihnen erklärt, wir seien im Unrecht. Die Jungen mögen ihn gern, und das versucht er auszunutzen. Damit sie dann die Eltern beeinflussen, verstehst du?»
«Aha … Und wie hat er’s geschluckt?»
«Aufs hohe Ross hat er sich gesetzt! Er ist der Rabbi, hat er gesagt, und niemand hat ihm Vorschriften zu machen. Was er sagen darf und was nicht, darüber entscheidet er allein.»
«Und jetzt? Wie geht’s nun weiter?»
Gorfinkle stellte
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