Amanda Jaffe 01 - Die Hand des Dr Cardoni
klingelte. Amanda setzte sich im Bett auf und tastete im Dunkeln nach dem Hörer.
»Frank, ich bin in Schwierigkeiten.«
Es war Vincent Cardoni, und er klang verzweifelt.
»Dr. Cardoni, hier ist Amanda Jaffe.«
»Geben Sie mir Ihren Vater!«
»Er ist wegen einer Zeugenaussage in Kalifornien. Wenn Sie mir eine Nummer geben, wo er Sie erreichen kann, werde ich ihm sagen, dass er Sie morgen anrufen soll.«
»Morgen ist zu spät. Da ist etwas, das ich ihm sofort zeigen muss.«
»Ich kann nicht mehr tun, als meinem Vater Ihre Nachricht durchzugeben.«
»Nein, Sie verstehen nicht. Es geht um die Morde.«
»Was ist damit?«
Amanda hörte Cardoni schwer atmen, als er ins Telefon flüsterte: »Ich weiß, wer sie begangen hat. Ich bin in der Hütte in Milton County. Kommen Sie her, sofort!«
»Die Hütte? Ich weiß nicht ...«
»Sie sind meine Anwältin, verdammt noch mal! Ich bezahle Sie, damit Sie mich verteidigen, und ich brauche Sie hier. Es geht um meinen Fall.«
Amanda zögerte. Frank würde nie einem Mandanten, der so verzweifelt klang, Hilfe verweigern. Wie sollte sie ihrem Vater ihre Weigerung erklären, wenn sie jetzt nicht dorthin fuhr? Wie konnte sie Strafrecht praktizieren, wenn sie einem Mandanten nicht helfen wollte, nur weil er ihr Angst machte? Strafrechtsanwälte vertreten jeden Tag Vergewaltiger, Mörder und Psychopathen. Das waren alles furchteinflößende Menschen.
»Ich fahre sofort los.«
Cardoni legte auf, und Amanda bedauerte schon jetzt, dass sie sich zu dem Treffen bereit erklärt hatte. Es war Mitternacht, und die Fahrt zur Hütte würde eine gute Stunde dauern. Das bedeutete, dass sie mitten in der Nacht in einer gottverlassenen Gegend mit Cardoni allein sein würde. Ihr drehte sich der Magen um. Sie dachte daran, was in der Hütte passiert war. Sie sah Mary Sandowskis Gesicht, aus dem jede Farbe und jede Hoffnung gewichen waren. Was, wenn Cardoni das alles getan hatte? Was, wenn er auch in ihrem Fall nicht davor zurückschreckte?
Amanda ging nach unten ins Arbeitszimmer. Frank war ein Waffenliebhaber, und er hatte sie mit auf den Schießstand genommen, sobald sie alt genug war, eine Pistole zu halten. Amanda gefielen die Zielübungen, und sie stellte sich auch recht geschickt an. Frank hatte eine kurzläufige 38er in der unteren Schublade seines Schreibtischs. Amanda lud sie und steckte sie in die Jackentasche. Außerhalb eines Schießstands hatte sie noch nie eine Pistole abgefeuert. Sie hatte gehört und gelesen, dass der Schuss auf einen Menschen etwas völlig anderes ist als ein Schuss auf eine Metallsilhouette, aber sie wollte sich nicht ohne Schutz nach Mitternacht und in einer verlassenen Gegend mit Cardoni treffen.
Die Temperatur lag um den Gefrierpunkt. Amanda zog deshalb über die Jeans und den dunkelblauen Rollkragenpullover einen Skianorak an. Kurz vor ein Uhr fing es an zu regnen, und in der Nähe des Passes wurde aus dem Regen Schnee. Amanda hatte Vierradantrieb, sie machte sich deshalb keine allzu großen Sorgen, war aber doch erleichtert, als aus dem Schnee wieder ein leichter Regen wurde. Sie sah die Abzweigung zur Hütte bereits vor sich, als plötzlich ein Auto aus dem schmalen Feldweg schoss und an ihr vorbeiraste. Amanda glaubte in dem kurzen Augenblick, als die beiden Autos auf gleicher Höhe waren, den Fahrer erkennen zu können. Kurz darauf verschwanden die Heckleuchten des anderen Autos aus ihrem Rückspiegel.
Als ihre Scheinwerfer das Haus beleuchteten wusste sie sofort, dass etwas nicht stimmte. Im Wohnzimmer brannte Licht, und die Terrassentür stand weit offen. Der Wind war stärker geworden und blies Regenschwaden in das Haus. Der gesunde Menschenverstand sagte ihr, dass sie sofort umkehren und schleunigst zurückfahren sollte in die Sicherheit der Stadt, aber sie wusste auch, dass ihr Vater sich nicht aus dem Staub machen würde. Sie atmete einmal tief durch, zog die Pistole aus der Tasche und ging auf das Anwesen zu.
Das Erste, was ihr beim Eintreten auffiel, war das Blut auf den Hartholzdielen im Wohnzimmer. Der Fleck war relativ klein, aber doch groß genug um ihr zu sagen, dass hier etwas Schlimmes passiert war.
»Dr. Cardoni?«, rief sie mit zitternder Stimme. Keine Antwort. Eingehend musterte sie das große Zimmer, und sie stellte fest, dass ansonsten alles in Ordnung war. Die anderen Lichter im Obergeschoss waren ausgeschaltet, aber im Treppenhaus, das in das Untergeschoss mit dem Operationsraum führte, brannte Licht. Eine Blutspur führte
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