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Anatomie einer Affäre: Roman

Anatomie einer Affäre: Roman

Titel: Anatomie einer Affäre: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright , Hans-Christian Oeser , Petra Kindler
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aber nicht zu vornehm – und redeten über Geschäftliches. Er versteht was von seiner Arbeit, das muss ich immer wieder betonen. Er hatte kein Interesse an Komplikationen. Er schaute sich die Firma sorgfältig an, versuchte den Fels mit einem einzigen Hieb zu spalten. Und nach dem Geschäftlichen kam der Charme. Er erzählte eine Geschichte, dann noch eine. Wirklich lustige Geschichten. Er bestellte Dessertwein. Er spöttelte über die »piekfeine« Schule, auf die ich gegangen war, über die Höhe meiner Absätze, er brachte mich zum Kämpfen und zum Flirten. In der dritten Woche glaubte ich, dass etwas mit meinem Blutdruck nicht stimmte, dass ich jederzeit ohnmächtig werden oder sterben könnte.
    Ich gewöhnte mir an, abends zu Fuß nach Hause zu gehen – oder irgendwohin. An einem Freitag machte ich vor dem Eingang eines Pubs auf dem Absatz kehrt, weil er nicht dort war. Ich drehte an einer Fußgängerampel ab, weil sie auf Rot stand, überquerte Straßen, weil wenig Verkehr war, und bog um verschiedene Ecken – nicht so sehr, weil ich vermeiden wollte, nach Hause zu gelangen, sondern eher, weil ich eine Abneigung gegen jedes feste Ziel hatte. Eines Abends landete ich am Rand der Dubliner Bucht. Inzwischen war es Oktober, finster und kalt. Ein unverhältnismäßig großes Containerschiff lag am Horizont. Im Dunkeln verschmolz der endlose Strand mit einer See, die so seicht war, dass es den Anschein hatte, als säße das Ding auf dem Meeresboden fest. Doch die Lichter trieben vor mir her. Das Schiff bewegte sich, es muss sich bewegt haben. In welche Richtung, konnte ich im Dunkeln nicht ausmachen.
    Schön war auch dieses Spiel des Nicht-Berührens. Das ist etwas, das ich über Seán und mich kaum zu sagen wage – wie schön es war, wie exquisit der Abstand, den wir wahrten. Und als ich ihn eines Nachmittags gedankenverloren neben dem Drucker stehen sah und ihm das Licht über die Schulter fiel, da war es, als habe dasselbe Licht mir einen Stoß vor die Brust versetzt. Ich hatte nicht damit gerechnet, ihn dort vorzufinden. Er trug Grau, und sein Haar war grau; die Pflanzen neben ihm waren dunkelgrün, der Boden des Korridors hinter ihm dunkeltürkis. Dies sind die Einzelheiten, und sie klingen so läppisch – ich meine: ein Mann mittleren Alters in einem Büro mit einer Akte in der Hand. Aber auch in seiner Abwesenheit fand ich keinen Trost. Wenn er fort war, dachte ich an nichts anderes: Seán im Garten meiner Schwester, Seán in Brittas Bay, Seán in der Schweiz. Ich fragte mich, wo er sich in dieser Minute aufhielt und was er wohl gerade machte. Fünfzig, sechzig, hundert Mal am Tag dachte ich über eine gemeinsame Zukunft nach und wischte den Gedanken wieder beiseite. Es war alles so aufwühlend. Doch irgendwo in den Zwischenräumen – in der Gewissheit, ihn zu erblicken, wenn sich die Fahrstuhltür öffnete, oder in dem Erschrecken, wenn ich in der Nähe seine Stimme hörte – umfing mich Stille, eine Art Vollkommenheit. Es war sehr schön, dieses Begehren, das sich in mir auftat und dann erneut auftat. Und genau dieses süße Verlangen nach Seán Vallely, das Gefühl, dass ihm etwas Unaussprechliches zugrunde lag, hilft mir, jedes Bedauern außer Acht zu lassen. Ich spürte – und spüre es noch immer –, dass wir, wenn wir uns noch einmal küssen, vielleicht nie wieder aufhören werden.
    Ich nahm fast vier Kilo ab.
    Was großartig war. Ich sprang zur Arbeit und rannte die Treppen hinauf, weil ich nicht die Geduld hatte, auf den Fahrstuhl zu warten. Und ganz selten lehnte ich die Stirn an eine geeignete Wand und presste sie dagegen.
    Es ist verblüffend, wie nahe man jemandem kommen kann, indem man völlig stillhält.
    Es gab zwei Dinge, die mir auffielen, und ich weiß nicht, ob sie miteinander zusammenhängen. Zum einen sein Verhalten im Büro, wenn ich Kenntnisse besaß, die ihm fehlten, oder Orte besucht hatte, an denen er noch nicht gewesen war – etwa mein Tauchurlaub in Australien oder mein müheloser Umgang mit Fremdsprachen, der in deutlichem Gegensatz zu seinen paar Brocken Französisch stand –, da entwickelte er sehr schnell die Fähigkeit, auf diese Leistungen stolz zu sein, in meinem Namen damit zu prahlen. Und das irritierte mich. Es hörte sich an, als wäre es sein Verdienst, dass ich so klug und unternehmungslustig war. Ich hatte das Great Barrier Reef absolviert, und er konnte die Lorbeeren einheimsen. Zumindest klang es so, als hätten wir das Barrier Reef gemeinsam erlebt. Und

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