Angelique Der Gefangene von Notre Dame
wartet. Das Wasser ist mit Orangenblüten parfümiert. Auf dem marmornen Tisch hat ihre Dienerin Zyperpulver, Salben aus Florenz und Rom, spanisches Wachs, Essenzen aus Nizza und Genua, Jungfernmilch, Tausendblumenwasser und Räucherschälchen aufgestellt.
Aber halt! Unten kratzt jemand an der kleinen Gartentür. Das ist er â¦
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Madame Scarron schlummert in ihrem schmalen Bett. Sie dreht sich um und stöhnt leise. Plötzlich schreckt sie hoch, weil sie im Dunkeln das hämische Lachen des Krüppels gehört hat. Als er noch lebte, hat sie sich nie gefürchtet und nie gelangweilt.
Von jetzt an wird sie selbst bestimmen, wie viel Hilfe sie annimmt.
Es war klug, in die kleine Wohnung im Ursulinenkloster zu ziehen, die ihre Cousine, die Marschallin dâAumont, bewohnt, wenn sie sich für eine Weile ins Kloster zurückzieht, und die sie
ihr vorübergehend zur Verfügung gestellt hat. Aber die Karrenladung Brennholz, die die liebenswürdige Person für sie im Klosterhof hat abladen lassen, hat sie unverzüglich wieder zurückgeschickt.
Zum ersten Mal in ihrem Leben verspürt sie ein Gefühl von Freiheit.
Jene Freiheit, die einem die Gewissheit eines gesicherten Morgen verschafft.
Von jetzt an ist sie in der Lage, alle notwendigen Ausgaben zu bestreiten. Sie hat genug Geld, um der erniedrigenden Armut entronnen zu sein.
Und das nennt sie ihre neu gewonnene Freiheit.
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Jetzt wird sie ihr Leben Stück für Stück nach ihrem eigenen Geschmack und ihren eigenen Träumen gestalten können. Sie kann wieder mit ihren Freunden verkehren, die sie allein wegen ihres Geschicks schätzen. Sie wird sich ihren Platz fernab der Demütigungen und des falschen Mitleids zurückerobern, fernab der Neider, die begierig auf den unausweichlichen Sturz gelauert haben, solange sie sich in dieser kläglichen Lage befand.
Ihr liegt nichts an den Freuden der Liebe, die sie noch nie gekostet hat und die sie in den Augen der Welt auch nicht kosten darf. Sie muss über jeden Verdacht erhaben sein. Denn diese Welt mit ihren zahlreichen Verbindungen ist ihr Weg aus dem Elend. Sie weiÃ, wie sie für sich einnimmt. Dazu bedarf es viel Ehrlichkeit, Geduld und Beharrlichkeit. Niemals darf sie den Verleumdungen Nahrung geben â in der Armut ist die Tugend ihr einziger Besitz. Sie muss sich dort zeigen, wo man sich an sie erinnert und wo sie das Recht hat, an der Seite der Allerhöchsten zu erscheinen. Wenn man arm ist, bedeutet ein guter Name, den man bei der Geburt erhalten hat, ein nicht zu unterschätzendes, kostbares Gut. Aber leider kann sie sich nicht allzu sehr auf ihren GroÃvater berufen, den schrecklichen und begabten
Dichter Agrippa dâAubigné, der sich gegen den konvertierten König auflehnte und sogar die Engländer zu Hilfe rief, um Heinrich IV. dafür zu bestrafen, dass er die reformierte Religion seiner Geburt verraten hatte.
Es ist besser, ihn in Vergessenheit geraten zu lassen und sich hinter dem Namen Scarron zu verbergen.
Sie verdankt diesem Mann, der sich ihrer unglücklichen Jugend erbarmte, so viel. Bei ihm versammelten sich die geistreichsten Menschen der Stadt, und er hat ihr beigebracht, die Königin eines angesehenen Salons zu sein.
Aber wie soll sie in den Augen der Welt Erinnerungen auslöschen, die niemand kennt?
Morgen wird sie bei Tagesanbruch die Messe besuchen, dann wird sie in den Louvre gehen und der Königinmutter ein Bittschreiben überreichen, um von ihr vielleicht ein Amt, einen Titel oder eine bescheidene Pension zu erhalten, die ihren Lebensunterhalt sichern und ihr ein standesgemäÃes Dasein ermöglichen werden.
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König Ludwig XIV. hingegen schläft und träumt nicht. Er eilt über die Dächer des Louvre.
Warum? Nun, Seine Majestät möchte dem Marquis de Saucourt um keinen Preis in seinen amourösen Heldentaten nachstehen. Es genügt ihm nicht mehr, dass seine Gemahlin, die Infantin, aus blauen Augen verliebt zu ihm aufschaut, dass Madame de Soissons ihm glutvolle Blicke zuwirft und dass Madame dâOrléans, die geistreiche Henriette, ihn kühn anlächelt. Der König hat ein Auge auf Mademoiselle de La Motte-Houdancourt geworfen, eines der Ehrenfräulein der Königin. Doch als Ludwig XIV. die Schöne an diesem Abend in den Gemächern der Ehrenfräulein besuchen wollte, hat ihm Madame de Navailles, die über den Schwarm junger
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