Angelique Der Gefangene von Notre Dame
müsste sie zurückgewinnen. Er hat bestimmt längst genug von seiner reizlosen Gemahlin, dieser Infantin, die noch kein einziges Wort Französisch kann und blind den strengen Anweisungen ihres jesuitischen Beichtvaters folgt. Sie wird am Hof niemals eine Rolle spielen. Am Hof von Ludwig XIV. wird seine Favoritin herrschen. Aber wer wird diese Favoritin sein?
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Die Gräfin de Soissons liegt auf dem wappenverzierten Laken ihres Bettes und streckt ihren hellen, golden schimmernden Körper. Ja, sie wird die Voisin aufsuchen. Sie kennt alle möglichen Mittel und wird ihr sicher geben können, was sie braucht, um die Unannehmlichkeiten des »ausbleibenden Flusses« zu beheben, den sie vor zwei Monaten erstmals bemerkt hat. Ein solches Mittel einzunehmen ist zwar ärgerlich, aber noch viel ärgerlicher ist es, neun Monate lang ein Kind auszutragen, vor allem, wenn man einen eifersüchtigen Ehemann hat und von dem unstillbaren Drang getrieben wird, sich zu amüsieren.
Wozu soll das Leben denn gut sein, wenn nicht, um mit den Männern zu spielen...? Auch wenn sie einander im Grunde alle ähneln und auf Dauer etwas langweilig werden.
Bisher hat nur einer ihr völlig neue Empfindungen zu bescheren vermocht. Ein dunkles, stummes Wesen, wild wie ein Stier, sanft wie der Wind, blind und arglos wie ein Element der Natur, dessen Umarmung eine unbestimmte, gleichermaÃen Furcht einflöÃende wie erregende versunkene mythische Erinnerung weckte.
Die Gräfin erschauert. Ihr Mund ist plötzlich trocken, sie richtet sich auf und horcht. Nein, ihr schwarzer Sklave wird nicht mehr kommen. Er ist auf den Galeeren. Er wurde in diesem albernen Hexenprozess verurteilt, und sie hat nicht gewagt, ihn zurückzufordern, weil er zu ihrem Haushalt gehöre und sie teuer für ihn bezahlt habe.
Nie wieder wird der schweigende Mohr durch die finsteren Gänge des Louvre schreiten, geräuschlos die Tür öffnen und sich, fordernd und verächtlich zugleich, der ihm dargebotenen weiÃen Göttin nähern.
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Gefolgt von Péguilin, entsteigt der König dem Kamin. Beide sind höchst zufrieden. Der Marquis de Vardes und der Kammerdiener niesen und sind es weniger.
Ãber die Dächer des Louvre eilt Ludwig XIV. zurück in seine Gemächer.
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Der GroÃe Coesre, der König der Diebe und Bettler, macht sich auf den Weg zum Friedhof der Unschuldigen Kinder, um dort Recht zu sprechen.
Für die Fürsten ist die Nacht die Zeit des Vergnügens, aber für die Bettler und Räuber beginnt nun die Arbeit.
Die ehemaligen Soldaten mit ihren Rapieren, die Bettler mit den künstlichen Geschwüren und die Lahmen auf ihren Krücken, die Konvertierten mit ihren groÃen Rosenkränzen aus Buchsbaumholz, die Halbnackten, die ihre wenigen Lumpen enger um die blau gefrorene Haut ziehen, die falschen Kranken, die Krätzigen, die Winterbettler, die nur in den kalten Monaten um Almosen bitten, und die Schenkenbettler kriechen aus ihren verwanzten Löchern, dazu die Abgebrannten und die Sackbettler, die in ganzen Familien auf dem Land um Almosen bitten und abends in die Städte zurückkehren, wobei sie einen groÃen Bogen um die Stadtwachen schlagen.
Aber die Stadtwachen und Gerichtsbüttel haben anderes zu tun, als ihre Haut beim Friedhof der Unschuldigen Kinder zu riskieren. Sie sitzen Pfeife rauchend im Gardesaal des Châtelet.
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Die Flussschiffer, die am Seineufer an ihrem Feuer zusammensitzen, sehen die flüchtigen Schatten vorbeihuschen. Hin und wieder
schlüpft eine Gestalt zwischen den Kähnen davon. Die Bettler, die in der Wärme der Heuboote Zuflucht gesucht haben, erwachen, als die mit Lilien geschmückte Uhr am Justizpalast und die Rathausuhr Mitternacht schlagen.
Denn selbst im Winter lagern Berge von gutem Heu an den Ufern der Seine. Man braucht viel Heu für all die Pferde. In dieser Stadt gibt es mehr Pferde als Menschen, und von überallher dringen Schnauben und der warme Hauch der Ställe ins Freie.
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Zwischen den Hufen eines Pferdes hat sich auch der Schmutzpoet zum Schlafen hingelegt. Genauer gesagt, zwischen den Hufen des bronzenen Pferds von Heinrich IV. auf dem Pont-Neuf. Es ist dort zwar nicht warm, aber wenn es regnet, bietet ihm der Bauch des königlichen Reittiers ausreichend Schutz. Von diesem Ausguck herab betrachtet Claude Le Petit die vorbeieilenden Räuber vom Pont-Neuf, die ihn kennen und
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