ANGRIFF - Fantastischer Thriller (German Edition)
belogen.
»Oh Gott, nein!«, stöhnte sie.
Warum? Warum sollte Rafe wegen Ev lügen? Warum war ihm so sehr daran gelegen, sie gegen Ev aufzubringen? Sie widerstand dem Impuls, Ev die Sache mit Rafe zu erklären, ihm klarzumachen, dass es nicht ihre Schuld gewesen war, dass Rafe sie dazu gebracht hatte. Aber er hatte sie zu nichts gezwungen. Er hatte sie belogen, aber das spielte keine Rolle. Selbst wenn seine Geschichten über Ev wahr gewesen wären, wäre das kein Grund, Evs Orangensaft zu manipulieren. Dafür gab es keinerlei Rechtfertigung. Was sollte sie schon sagen? Der Teufel hat mich dazu gebracht? Es gab nichts und niemand, hinter dem sie sich verstecken konnte.
Sie sah Ev an und erkannte die furchtbare Enttäuschung in seinem Gesicht. Es wäre ihr sehr viel lieber gewesen, wenn er wütend auf sie wäre. Hass, Jähzorn – sie konnte damit leben, dass sie jemanden verärgert hatte. Aber keine Enttäuschung. Sie hätte sich am liebsten in ein Loch verkrochen.
»Gott, was stimmt nur mit mir nicht?«, fragte er.
Sie suchte verzweifelt nach einer positiven Deutung für alles.
»Verstehst du das denn nicht, Ev? Du trägst keine Schuld an deinem Rückfall. Wenn sich niemand eingemischt hätte, wenn ich dir diese Bombe nicht in den Kühlschrank gelegt hätte, wenn du die freie Wahl gehabt hättest, dann hättest du nicht wieder mit dem Trinken angefangen. Du darfst dir nicht die Schuld geben. Es ist meine Schuld, nicht deine.«
»Ich wünschte fast, es wäre meine Schuld«, sagte Ev in niedergeschlagenem, am Boden zerstörten Tonfall.
»Nein. Sag so etwas nicht.«
Er rappelte sich auf die Füße und sie stand ebenfalls auf. Er begann in einem unsicheren Kreis um sie herumzulaufen.
»Ich habe nicht viele Freunde, Lisl. Eigentlich habe ich überhaupt keine. Ich habe mich immer schwer damit getan, Freundschaften zu schließen, wenn ich nüchtern war. Das war einer der Gründe, warum ich getrunken habe. Aber ich hatte gedacht, wir wären Freunde, Lisl. Na, vielleicht nicht wirklich Freunde, aber wenigstens Kollegen. Ich dachte, du würdest mich respektieren, würdest mich achten. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass du mir so etwas antun würdest.«
»Ich auch nicht, Ev. Wirklich nicht.«
»Was habe ich dir nur getan, dass du mich so sehr hasst?«
»Ach Ev, ich hasse dich nicht!«
»Gott, wie dumm bin ich doch gewesen!« Seine Stimme wurde lauter. »Was für ein Idiot! Ich habe dir vertraut! Ich … ich mochte dich. Was für ein Trottel! Was für ein gottverdammter Trottel!«
»Nein, Ev! Ich bin der Trottel. Und ich bin dein Freund. Ich werde dir helfen, die Dinge wieder ins Lot zu bringen.«
»Und was ist mit meiner Arbeit? Was mit meinem Artikel für Palo Alto?«
»Was ist damit?«
»Es ist weg. Gelöscht! Sogar meine Sicherheitskopien. Gelöscht! Das war kein Unfall! Wenn du Zugang zu meinem Kühlschrank hattest, hattest du auch Zugang zu meinem Computer. Lisl, wie konntest du das tun? Du hättest an mir vorbeiziehen können, wenn du Karriere machen wolltest. Du hättest mich nicht zerquetschen müssen wie ein Insekt!« Er blieb stehen und schlug die Hand vor den Mund. Ein Schluchzen entrang sich seiner Kehle. »Wie konnte ich mich nur so in dir täuschen?«
Lisl stand vollkommen entgeistert da, schreckensstarr. Evs Arbeit war verschwunden? Wer könnte …?
Und dann fiel der Groschen. Rafe. Er hatte Evs Zugangscodes neben dem PC in der Wohnung gefunden. Rafe musste die Daten gelöscht haben. Aber was hatte er sich dabei gedacht? Welchen Grund hatte er dafür? Konnte er in irgendeiner verqueren Logik gedacht haben, er würde ihr damit helfen?
»Ev, ich habe deine Dateien nicht angerührt.«
Aber Ev hörte sie nicht mehr. Er lief weg von ihr, stolperte durch das braune Gras auf den Highway zu. Seine Worte wurden durch den Lärm der Autos verzerrt, aber Bruchstücke drangen zu ihr herüber.
»… dachte, ich hätte alles unter Kontrolle … geirrt … Trottel … dachte wirklich, ich hätte etwas … hatte nichts … dachte, ich könnte mich auf Lisl verlassen … hätte mich nicht vernichten müssen … alles so sinnlos … ertrage das nicht länger … kann nicht von vorn anfangen …«
»Ev! Komm zurück!«
Zuerst dachte sie, er wolle nur weg von ihr, und das konnte sie ihm wirklich nicht verübeln. Selbst sie hatte im Augenblick keine große Lust auf ihre Gesellschaft.
Ev sah aus, als wolle er sich an den Standstreifen stellen und trampen. Aber da blieb er nicht stehen. Er ging einfach
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