ANGRIFF - Fantastischer Thriller (German Edition)
Information und las beinahe ununterbrochen. Und wenn es die Nase nicht gerade in ein Buch steckte, saß es vor dem Fernseher.
Gerade jetzt stand Carol im Türrahmen und beobachtete Jimmy, der in seinem Bullwinkle-Schlafanzug vor dem Bildschirm saß. Er hatte die Beine unter sich verschränkt, saß auf seinen Hacken und hatte die seitlich liegenden Füße unter dem Hintern überkreuzt. Seine dunklen Augen glühten vor Interesse und ein leises Lächeln spielte um seine Lippen. Aber er sah sich nicht das Kinderprogramm oder Zeichentrickfilme an. Im Fernsehen lief eine Dokumentation über Vietnam.
»So viel Angst und Zerstörung und Tod«, sagte er mit seiner Kleinkinderstimme schockierend deutlich. »All der Streit und der Unfrieden. Und alles wegen einem wertlosen winzigen Dreckklumpen am anderen Ende der Welt.« Er drehte sich zu Carol um. »Ist das nicht fantastisch?«
»Nein«, sagte Carol und betrat das Zimmer. »Es ist schrecklich. Und ich will nicht, dass du dir das ansiehst.«
Sie schaltete den Apparat ab und hob ihn vom Boden hoch.
»Wie kannst du es wagen!«, brüllte er. »Schalt den Fernseher wieder an! Lass mich runter!«
Sie hielt seinen winzigen Körper in sicherer Entfernung von sich, außer Reichweite seiner um sich schlagenden und tretenden Arme und Beine.
»Tut mir leid, Jimmy. Du bist vielleicht nicht so wie alle anderen Kinder auf der Welt, aber ich bin immer noch deine Mutter. Und ich sage, es wird Zeit, dass du ins Bett gehst.«
Sie bettete ihn in seine Wiege, schloss die Tür zum Kinderzimmer und versuchte, sein wütendes Geschrei zu ignorieren, als sie in ihr Schlafzimmer zurückging. Er war noch zu klein und seine Arme zu schwach, um sich über das Gitter der Wiege zu hieven. Man muss auch für Kleinigkeiten dankbar sein.
Sie setzte sich auf das Bett und versuchte zum tausendsten Mal ihre Gefühle für ihren Sohn zu analysieren. Trotz allem war es Liebe – wenigstens von ihrer Seite aus. Er war Jims Sohn, und die neun Monate, die sie ihn in ihrem Innern mit sich herumgetragen hatte, hatten ein Band geschmiedet, das nicht zerbrach, egal wie bizarr sich seine mentalen Fähigkeiten und sein Verhalten entwickelten. Aber sie hatte auch Angst. Nicht um sich selbst, aber Furcht vor dem Unbekannten. Wer war Jimmy? Carol wollte wirklich eine Mutter für ihn sein, aber das erwies sich als unmöglich. Er benahm sich wie ein voll entwickelter Erwachsener im Körper eines Kindes. Von Geburt an hatte er ein enzyklopädisches Wissen über die Geschichte der Welt und saugte gierig noch mehr auf.
Plötzlich hörte das Geschrei aus dem Kinderzimmer auf. Carol ging in den Flur und sah gerade noch die hochgewachsene, hagere Gestalt von Jonah Stevens, der Jimmy an der Hand zurück ins Wohnzimmer führte.
»Jonah!«, sagte sie. »Ich will, dass er im Bett ist. Er braucht seinen Schlaf!«
Das war schon wieder ein Scharmützel in dem mittlerweile unablässigen Zweikampf zwischen Mutter und Großvater. Alles, was Carol Jimmy verbot, bekam er von Jonah. Der betete das Kind nahezu an.
Jonah lächelte nachsichtig. »Nein Carol. Er muss so viel nur eben möglich über die Welt lernen. Schließlich wird sie ihm eines Tages gehören.«
Jimmy sah nicht einmal zu ihr auf, als er an ihr vorbei ins Wohnzimmer trottete. Carol ließ sich gegen die Wand sinken und kämpfte gegen die Tränen an, während der Lärm der Nachrichten erneut aus dem Fernseher schallte.
Oktober
V
North Carolina
1.
»Was für ein wunderbares Filmereignis«, sagte Rafe, als sie aus dem Kino kamen.
Lisl lächelte ihn an. »Ich glaube es einfach nicht, dass du Metropolis noch nie gesehen hast.«
»Nein, nie. Diese Bauten! Was habe ich nur alles verpasst, weil ich Stummfilme immer ignoriert habe. Ich bin ihnen immer aus dem Weg gegangen – dieses ganze übertriebene Chargieren. Aber das ändert sich jetzt. Als Nächstes sehen wir uns Das Kabinett des Doktor Caligari an.«
Lisl lachte. Seit Cal Rogers Party hatte sie sich immer wieder mit Rafe getroffen. Sie fühlte sich in seiner Gegenwart wohl. Mehr sogar, sie fühlte sich selbstsicher bei ihm. Es gab nie eine peinliche Pause, nie einen Aussetzer in der Konversation. Da war immer etwas, über das man reden konnte – irgendeine neue Idee, irgendeine spontane Theorie über etwas, das ihm gerade in den Kopf kam. Sein Verstand war ein gieriger, immer hungriger Allesfresser, immer auf der Suche nach neuen Beutetieren, neuen Weideplätzen. Ihr Brezel-Gespräch in Cals Wohnung war nur ein
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