ANGRIFF - Fantastischer Thriller (German Edition)
Beispiel für so viele der Gespräche, die sie in den letzten Wochen geführt hatten. Rafe sah eine Bedeutung in jeder noch so beiläufigen Handlung einer Person. »Bausteine einer Persönlichkeit«, wie er es nannte. Er sagte, er wollte seine Karriere als Psychologe der Erforschung, Gruppierung und Analyse solcher Bausteine widmen. Seine Doktorarbeit war der erste Schritt auf diesem Weg.
Als die Wochen vergingen, waren sie sich immer näher gekommen: Erst Mittagessen, dann Abendessen, dann lange Spaziergänge im Park und jetzt diese Sondervorführung im Kino. Rafe hatte bisher noch keinen Annäherungsversuch gemacht und das gefiel ihr nicht so recht. Nicht, dass sie eine sexuelle Beziehung zu ihm wollte, und sie war sich sicher, dass er keinen Gedanken an so etwas verschwendet hatte. Sie war zu kühl und altjüngferlich, um für jemanden wie ihn attraktiv zu sein. Aber es hätte ihrem Ego unendlich geschmeichelt, wenn sie ihm höflich einen Korb geben könnte.
Aber würde sie das überhaupt tun? Konnte sie es?
Lisl bremste sich. Sexuelle Fantasien über Rafe? Absurd. Von einer sexuellen Beziehung zu ihm träumen? Unmöglich.
Zunächst einmal war er zu jung. Zehn Jahre sind eine viel zu lange Zeitspanne in Bezug auf Erfahrung und Reife …
Aber er war sehr reif. Rafael Losmara war kein typischer Doktorand, der zwar sein Studium absolviert hatte, aber irgendwie noch in seinem Entwicklungsprozess feststeckte. Rafe schien voll entwickelt. Gott, es gab Zeiten, da kam er ihr weit älter vor als sie selbst es war, da fühlte sie sich wie ein Kind, das von ihm lernte. Er schien alles so klar zu sehen. Er hatte diese Fähigkeit, die Schichten der Ausflüchte zu durchbrechen und direkt zum Zentrum von dem, was bedeutsam war, vorzudringen.
Aber selbst wenn sie die Jahre vergessen könnte, die zwischen ihnen lagen, und zugab, dass er reif genug für eine ernsthafte Beziehung war, müsste Lisl sich immer noch eine ganz grundsätzliche Frage stellen: Warum?
Warum sollte jemand, der so reich, so intelligent, so talentiert und so attraktiv war wie Rafe Losmara, der die freie Auswahl unter all den weiblichen Doktorandinnen und den jungen Studentinnen hatte, sich mit einer älteren Frau einlassen? Vor allem noch mit einer pummeligen, geschiedenen Frau.
Eine gute Frage. Eine Frage, die sich nicht ohne Weiteres beantworten ließ, weil Rafe sich offenbar aus den anderen Studentinnen nichts machte. Soweit Lisl das überblicken konnte, war sie zurzeit die einzige Frau in Rafes Leben. Sie hatte überlegt, ob er wohl homosexuell war. Aber auch an Männern schien er nicht interessiert zu sein.
In letzter Zeit hatte sie flüchtige Berührungen bemerkt; verstohlene Blicke, die auf etwas hindeuten mochten, das unter der unbewegten Oberfläche brodelte. Oder las sie da zu viel hinein, hoffte sie auf etwas, was vielleicht gar nicht da war?
In vielerlei Hinsicht ähnelte er Will. Vielleicht hatten sie beide mit Sex nichts am Hut. Na und? Was spielte das für eine Rolle? Sie hatte eine nette platonische Freundschaft, eine, die ihr viele Tage versüßte. Genau wie die, die sie mit Will hatte. Sie entschied, damit zufrieden zu sein, denn es schien so unwahrscheinlich, dass es fast schon Wahnsinn war, wenn sie meinte, es könnte mehr daraus werden.
Rafe nahm ihre Hand und drückte sie. Ein Kribbeln lief über ihren Arm.
»Danke Lisl. Danke, dass du das vorgeschlagen hast.«
»Bedank dich nicht bei mir, bedank dich bei Will.«
»Will?« Rafe runzelte die Stirn. »Ach ja. Der hochgebildete Gärtner, von dem du mir erzählt hast. Dank du ihm in meinem Namen.«
»Falls er hier ist, kannst du dich selbst bei ihm bedanken.«
»Ich würde ihm gern begegnen. Er scheint interessant zu sein.«
Lisl überflog die kleine Gruppe von Zuschauern und bemerkte sofort Everett Sanders klapperdürre Gestalt, die vorbeiging. Sie winkte ihn zu sich und stellte Rafe vor.
»Ein beeindruckender Film, meinen Sie nicht?«, fragte Rafe.
»Außerordentlich.«
Lisl sagte: »Wir gehen ins Hidey-Hole, um noch etwas zu trinken. Möchtest du mitkommen?«
Ev schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe noch zu tun. Wo wir gerade von der Arbeit sprechen: Ich habe gehört, dass du einen Vortrag für die Konferenz in Palo Alto einreichen willst?«
»Ich dachte, ich könnte es ja mal versuchen.« Sie fühlte sich plötzlich nicht mehr wohl in ihrer Haut. Natürlich war es ihr gutes Recht, eine Arbeit einzureichen, und trotzdem kam es ihr vor, als würde sie ungeladen zu
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