ANGRIFF - Fantastischer Thriller (German Edition)
kriegst du noch etwas von dem zu kosten, was du dem armen Jungen angetan hast.
X
North Carolina
Rafe hatte recht gehabt mit dem Stehlen. Es wurde einfacher. Ganz gegen ihren Willen.
Bei jedem kleinen Diebstahl hatte Lisl sich an ihr Schuldbewusstsein geklammert, hatte bei jedem Ereignis das schlechte Gewissen gehabt, das sie dabei haben sollte, aber trotz ihrer Vorsätze schwanden die Schuldgefühle, und ihre Gewissensbisse wurden brüchig und porös bis zu einem Punkt, wo sie zerbröselten und zwischen ihren Fingern hindurchrannen wie feiner Sand.
Sie hatte sich verändert. Sie sah jetzt so viele Dinge aus einem anderen Blickwinkel. Zum Beispiel ihre Eltern …
Sie war über Weihnachten nach Hause gefahren. Das hatte sich nicht vermeiden lassen. Sie wollte Rafe nicht verlassen, aber seine eigene Familie wollte ihn auch bei sich haben, also trennten sie sich über die Feiertage. Was für ein Albtraum!
Und wie sehr hatte es ihr die Augen geöffnet. Es war ihr vorher nie aufgefallen, wie oberflächlich ihre Eltern waren. Wie hohl und wie ichbezogen. Nach ihrer Ankunft hatten sie sie schlicht ignoriert. Das Einzige, was sie wirklich interessierte, waren sie selbst. Sie wollten sie während der Feiertage bei sich haben, aber nicht, weil sie sich wirklich nach ihrer Gesellschaft sehnten, sondern weil es sich so gehörte, dass das Kind über Weihnachten nach Hause kam. Sobald die Haustür hinter ihr geschlossen war, war da keinerlei Interesse oder Neugier an ihr. Sie beschäftigte nur die Sorge, wie sie vor anderen dastehen würden.
Die Erinnerung an das Weihnachtsessen war noch frisch in ihrem Gedächtnis, wie sie dagesessen hatte und zugehört hatte, während sie redeten. All diese Kleinlichkeit, Verbitterung und Eifersucht, die sich als Humor tarnte. Die dezente Abwertung bei den Fragen, wie lange sie mit dieser ›Karriere‹ denn noch weitermachen wolle; ob sie denn nicht wieder heiraten und ihnen Enkelkinder schenken wolle, damit sie mit ihren Freunden, den Andersons gleichziehen konnten, die bereits drei hatten. Sie hatte diese Spitzen vorher nie bemerkt, aber diese paar Monate mit Rafe hatten ihr die Augen geöffnet.
Es war deprimierend. Und es machte sie wütend.
Lisl fragte sich, was diese beiden als Eltern wirklich für sie getan hatten? Sie hatten sie gefüttert, hatten ihr etwas zum Anziehen und ein Dach über dem Kopf gegeben – und wahrscheinlich sprach schon das für sie, weil man selbst das nicht von allen Eltern erwarten konnte. Aber abgesehen vom Lebensnotwendigen, was hatten sie ihr gegeben? Was hatten sie an sie weitergegeben?
Bestürzt war ihr deutlich geworden, dass es in ihrem Leben keinen Angelpunkt gab. Sie war ohne einen Kompass aufgezogen und in die Welt hinausgeschickt worden. Und wenn sie nicht von sich aus etwas dagegen unternahm, dann würde sie weiterhin gefühlsmäßig, geistig und intellektuell nur weiter dahintreiben.
Am Tag nach Weihnachten war sie zurück nach Pendleton geflüchtet. Sie war überglücklich, als Rafe dort bereits auf sie wartete.
»Na gut«, sagte Rafe jetzt, als sie auf dem Bürgersteig hundert Meter von Balls Juwelierladen entfernt standen. Sie hatten gerade ihre 22. Diebestour hinter sich gebracht. »Wer ist der glückliche Passant, der heute unsere Beute bekommt?«
Lisl musterte die Gesichter der nachweihnachtlichen Käufer und Umtauscher, die an ihnen vorbeihasteten. Dann sah sie auf die goldene Schmetterlingsbrosche in ihrer Hand, die sie nur wenige Augenblicke zuvor aus der Vitrine bei Balls entwendet hatte. Die feine Ziselierung der Flügel faszinierte sie.
»Niemand.«
Rafe drehte sich mit hochgezogenen Augenbrauen zu ihr um: »Ach?«
»Ich mag die hier. Ich glaube, ich behalte sie.«
Die Worte entsetzten sie. Sie schienen sich selbstständig gemacht zu haben und waren ihr ohne ihr Zutun entschlüpft. Aber es war die Wahrheit. Sie wollte diese Brosche behalten.
Langsam breitete sich ein Lächeln auf Rafes Gesicht aus.
»Keine Schuldgefühle? Keine Gewissensbisse?«
Lisl erforschte sich selbst. Sie fand kein Schuldbewusstsein. Die Diebstähle waren tatsächlich eine Selbstverständlichkeit geworden. Nur noch eine Mühe – eine Aufgabe – sonst nichts.
»Nein«, sagte sie. Sie schüttelte den Kopf und sah auf die Brosche hinunter. »Und das macht mir Angst.«
»Du musst keine Angst haben.«
Rafe nahm ihr die Brosche ab, öffnete ihren Mantel und steckte sie an ihren Pullover.
»Wieso nicht?«
»Weil das hier ein Wendepunkt ist, ein
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