ANGRIFF - Fantastischer Thriller (German Edition)
traurig, sehr traurig.«
»Kann ich mich zu dir setzen?«
»Sicher.«
Bill ließ sich in den Stuhl fallen und Danny sprang auf seinen Schoß. Und plötzlich schmolz der eisige Frost, der sich seit Sonntag um seine Seele gelegt hatte, einfach weg. Das Gefühl der Haltlosigkeit begann zu verblassen. Die Leere in seinem Innern begann sich zu füllen.
»Sind deine Mami und dein Papa jetzt im Himmel?«
»Ja, ich bin sicher, dass sie das sind.«
»Und sie kommen nicht mehr zurück?«
»Nein, Danny. Sie werden nicht zurückkommen.«
»Dann bist du ja genau wie wir.«
Und da wurde ihm alles klar. Die anrührende Zeichnung, das Mitgefühl der Kinder. Sie bewohnten schon sehr lange das Land, in das er gerade eingezogen war. Sie hießen ihn willkommen in einem Land, in das niemand freiwillig ging.
»Das stimmt«, sagte er leise. »Jetzt sind wir alle Waisen, nicht wahr?«
Als Danny wieder von seinem Schoß heruntersprang, weil es ihm unmöglich war, mehr als ein paar Sekunden an einer Stelle zu verbringen, fühlte Bill plötzlich eine Verbundenheit mit dem Jungen, mit allen Jungen, die während seiner Zeit hier durch die Türen von St. F’s gekommen waren. Nicht allein Mitgefühl, mehr wie eine Seelenvereinigung. Das Gefühl der Ziellosigkeit verging, als sein Anker wieder Grund fand.
Und er war auch nicht ohne Familie. Er wusste, er war jetzt zwar wirklich ein Waisenkind wie die anderen Kinder in St. F’s, aber er hatte immer noch die Gesellschaft Jesu. Wenn man Jesuit war, war das so etwas wie eine Familie. Die Gesellschaft war eine fest zusammengehörende Bruderschaft. Wann immer er sie brauchte, würden seine jesuitischen Mitbrüder für ihn da sein. Eigentlich war es doch sogar so, dass er als Priester in der Kirche eine große, geistige Familie hatte. Und bei dieser Menge an Verwandten waren die Bewohner des St.-Francis-Waisenhauses seine Kernfamilie.
Sicher, er hatte seine Eltern verloren, aber er würde nie wirklich allein sein, solange er die Kirche hatte, die Jesuiten und die Jungen von St. F’s. Er würde immer ein Zuhause haben, würde immer irgendwo hingehören.
Und das war ein gutes Gefühl.
Bill ließ die Schrecken dieser Nacht hinter sich und stürzte sich wieder in die tägliche Routine, eines der letzten verbliebenen katholischen Waisenhäuser in New York zu leiten. Er hatte das Gefühl, er hatte das Schlimmste, was einem im Leben passieren konnte, durchgemacht und es überstanden. Was konnte jetzt noch groß geschehen? Alles, was ihm passieren konnte, war ihm bereits passiert – mit schrecklichen Konsequenzen. Von jetzt an würde es bergauf gehen.
Und für eine Weile, den größten Teil des Frühlings, schien tatsächlich alles besser zu werden.
Dann kamen die Loms nach St. F’s.
XV
1.
Sie kamen an einem warmen Samstagnachmittag Anfang Juni. Sie schienen zu jung, um ein Kind zu adoptieren. Mr. Lom war 27, seine Frau Sara 29.
»Bitte nennen Sie mich Herb«, sagte Mr. Lom. Er hatte einen kaum merklichen Akzent, der ihn in den Südwesten verwies.
Mit seinem runden Gesicht, dem dichten braunen Haar mit zurückgehendem Haaransatz, dem buschigen Schnurrbart und der Drahtgestellbrille erinnerte er Bill an Teddy Roosevelt. »Herbert Lom …«, überlegte er laut. »Warum kommt mir der Name so bekannt vor?«
»Es gibt einen Schauspieler mit dem gleichen Namen«, sagte Herb.
»Ja, das wird es wohl sein.«
Bill erinnerte sich jetzt – Peter Sellers als Inspektor Clouseau hatte ihn in den Wahnsinn getrieben.
»Bedauerlicherweise aber weder verwandt noch verschwägert.«
»Verstehe. Und Sie wollen einen unserer Jungen adoptieren?«
Sara nickte begeistert. »Oh ja! Wir wollen sofort eine Familie gründen und wir wollen mit einem Jungen anfangen.«
Sie war groß, dunkel und schlank. Sie hatte kurzes dunkelbraunes Haar mit einem fast jungenhaften Schnitt und glänzende dunkle Augen. Ihr Südstaatenakzent war bezaubernd.
Bill hatte sich vor dem Vorgespräch ihren Antrag angesehen. Die beiden waren erst seit einem Jahr verheiratet, beide stammten aus Texas und hatten an der Universität in Austin studiert, obwohl zwischen ihren Abschlüssen mehrere Jahre lagen. Herbert arbeitete für eine der großen Ölgesellschaften, er war vor Kurzem in deren New Yorker Büro versetzt worden. Sein Gehalt war beeindruckend. Beide waren praktizierende Katholiken. Alles schien in Ordnung zu sein.
Nur ihr Alter sprach gegen sie.
Normalerweise hätte Bill den Antrag mit einem höflichen Brief abgelehnt, in
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