Angst über London
konnte, dass es vorbei war. Dann traute ich mich hoch und fand diese Bar. Hier blieb ich sitzen.«
Sie erzählte die Geschichte überzeugend. Wenn sie stimmte, war es okay, wenn nicht, dann konnte man sie als die perfekte Lügnerin bezeichnen. »Wir müssen uns wohl damit abfinden, die einzigen hier zu sein«, sagte sie.
»Das stimmt nicht.«
Sie schaute mich an. Ihre Nasenflügel vibrierten, die Lippen waren ein wenig geöffnet. Diese Frau schien unter Strom zu stehen.
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Ich habe Menschen gesehen«, erwiderte ich.
»Aber es waren Plünderer, Marodeure, Verbrecher…«
»Wieso haben nur die überlebt?«
»Keine Ahnung.«
Sie schaute mich an. Mir war klar, dass sie mir die Worte nicht abnahm.
»Sie sagen die Unwahrheit, John.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Ich spüre es.«
»Ja, Sie haben recht. Ich sagte Ihnen nicht die Wahrheit.«
»Und warum nicht?«
»Weil die Wahrheit verdammt schwer zu ertragen ist, Miriam.«
Sie lachte. So laut, das das Echo bis nach draußen auf die Straße schallte. Dann hörte sie abrupt damit auf.
»Die Wahrheit, John. Meine Güte, was ist das schon? Wir leben hier in einer Alptraumwelt. Wir kommen uns vor wie die letzten Überlebenden nach einem gewaltigen Krieg. Müssen uns gegen eine feindliche Umwelt wehren, müssen kämpfen, und da reden Sie von einer Wahrheit, die schwer zu ertragen ist. In dieser Ausnahmesituation kann man jede Wahrheit vertragen, John Sinclair. Jede!« Damit hatte sie recht.
»Eine Erklärung!« forderte sie.
Ich trat meine Zigarette aus.
»Die kann ich Ihnen auch nicht geben. Ich habe nur eine Vermutung.«
»Dann die.«
»Kräfte, die wir nicht kennen, haben zugeschlagen. Mächte aus dem Jenseits, aus einer Parallelwelt, Dämonen, grausame Gestalten wollen das Chaos in die Welt bringen. Sie haben es geschafft. Soho, Londons City, ist ein einziger Trümmerhaufen. Das Grauen ist da, wir brauchen es nicht mehr zu stoppen, wir können es auch nicht mehr stoppen.«
»Sie sprechen tatsächlich von Dämonen, John? Glauben Sie eigentlich daran?«
»Ja.«
»Ich auch.«
Diese Eröffnung überraschte mich. Das hätte ich Miriam di Carlo nicht zugetraut.
»Wieso?«
»Die Erklärung ist leicht, John. Ich bin ein Medium oder ein medial begabter Mensch.«
Das war eine Eröffnung, die mich schockierte. War Miriam deshalb nicht in das Kraftfeld des Bösen geraten? Hatte sie aus diesem Grunde dem magischen Angriff trotzen können?
Ich wollte sie danach fragen, doch sie erzählte von sich aus weiter.
»Es war mir nicht neu. Ich wusste, dass so etwas kommen würde. Ich habe es gespürt, gesehen, geahnt. Und dann war ich nicht mehr überrascht. Aber mich traf es nicht. Ich habe Sie vorhin belogen, John. Ich hatte mich nicht im Keller verkrochen. Ich wohne am Rand von Soho, habe mein Haus ganz normal verlassen und bin durch das zerstörte Soho hierher in diese Bar gegangen. Und hier habe ich auch gewartet.«
»Auf wen?«
Sie lächelte. »Vielleicht auf Sie…«
Ich nahm ihre Hand. Sie ließ es geschehen, und sie rückte weiter zu mir hin. Plötzlich sah ich ihr Gesicht dicht vor dem meinen. Ich sah den Mund, eine einzige Lockung, und ich warf mich in ihre Arme. Meine Hände durchwühlten ihr Haar, während meine Lippen ihren Mund verschlossen.
Es war ein wilder Kuss, der Kuss zweier Verzweifelter, dein gelassen in einer makabren Umwelt, die sich gegenseitig zu stützen versuchten und sich Kraft geben wollten, um zu überleben.
Hier galten andere Gesetze, die weder Miriam noch ich gemacht hatte.
Nach einer Weile lösten wir uns voneinander. Miriam lächelte.
Dann sagte sie: »Das musste wohl sein.«
Ich nickte. Gleichzeitig dachte ich wieder an das, was hinter mir lag. An meine Freunde, die gestorben waren, und ich fühlte mein Gewissen, das mich anklagte. Miriam schien zu merken, was in mir vorging, denn sie fasste nach meiner Hand.
»Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen«, sagte sie leise.
Ich lächelte. »Sicher nicht. Aber wir sollten jetzt an die Zukunft denken.«
»An die nahe Zukunft?«
»Ja.«
Sie nickte. Dann schaute sie auf mein Kreuz und nahm es in die Hand.
»Was ist das? Ein Talisman, ein Beschützer?«
»So kann man es nennen.« Ich war froh, dass sie das Kreuz anfasste, denn es gab mir die Gewähr, dass diese Frau vor mir kein Dämon war.
Nur ein medial begabter Mensch, wie sie selbst zugegeben hatte. Darin sah ich nichts Schlimmes.
»Sollen wir gehen?« fragte
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