Angstspiel
stolpere gegen ein Fahrrad, das scheppernd umfällt. Irgendwas - vielleicht der Ständer, vielleicht eine Pedale - trifft mich stechend am Schienbein. Ich knie mich hin und fühle. Fühle die Froschklingel. Es ist mein Rad. Ich taste nach hinten. Zum Gepäckträger. Die Tasche ist nicht da. Ich taste hysterisch weiter. Vielleicht ist sie runtergefallen. Ich wische mit den Händen über den Boden. Hier irgendwo muss sie liegen. Immer weiter ziehe ich meine Kreise. Sie ist nicht da.
Mein Akku ist leer.
Mein Stecker ist gezogen.
Ich kann nicht mehr. Nicht mehr brüllen, nicht mehr weiter. Ich bleibe da sitzen und schluchze, habe noch nicht mal mehr Kraft, mir mit dem Ärmel den Rotz abzuwischen. Ich fühle mich lebendig begraben. Meine Augen sind schon tot. Ich sehe noch nicht mal mehr helle Kreise, wenn ich sie zumache. Da ist nichts mehr. Die Dunkelheit zieht alles Leben aus mir. Ich fange an mich zu wiegen. Hin und her. Wie ein Pendel. Eine Schwere liegt auf mir wie die Bleischürze, die man beim Röntgen umgehängt bekommt.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, als ich das Geräusch zum ersten Mal höre. Zehn Minuten oder eine Stunde. Es hört sich an wie ein Lachen. Ein unterdrücktes
Lachen. Ich schrecke hoch. Mein Herz stolpert kurz. Ich konzentriere mich. Lausche angestrengt. Höre aber nichts mehr außer meinen eigenen Atem und das dumpfe Pochen in meinen Ohren.
Was ist das Schlimmste, was passieren könnte?
Diese Frage soll ich mir stellen, wenn die Angst groß ist.
Das war immer der Rat meiner Mutter, wenn ich mich gefürchtet habe. Wenn mir etwas unangenehm war.
Als ich irgendwann mal alleine auf die Geburtstagsparty der Nachbarstochter sollte. Luise war krank geworden. Ich wollte da nicht alleine hin. Ich kannte da eigentlich niemanden.
»Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass niemand mit mir redet und ich die ganze Zeit alleine in der Ecke sitze«, hatte ich gesagt.
»Und wäre das wirklich so schlimm? Sich die anderen Leute anzugucken, ihnen zuzuhören, sich vorzustellen, was die für Hobbys haben? Was würdest du denken, wenn da jemand alleine sitzt und den anderen einfach zuhört?«
»So jemanden fände ich cool«, war aus mir rausgeplatzt.
Ganz oft habe ich auch gedacht: Das Schlimmste, was passieren könnte, wäre, dass ich einfach umfalle. Bewusstlos umkippe. Das wäre jetzt schön. Das Schlimmste, was jetzt passieren kann, ist, dass es nicht aufhört. Das Schlimmste ist eingetreten. Ich bin schon mittendrin. Und es ist viel schlimmer.
Ich höre Schritte. Ich höre mich schreien. Da waren doch Schritte. Ich weiß nicht, aus welcher Richtung sie kamen. Plötzlich geht es schnell. Ich höre, wie die Tür aufgeschlossen wird, sehe, wie sie sich einen Spaltbreit öffnet, und erkenne eine Silhouette, die verschwindet.
Da ist jemand rausgegangen.
Die Tür ist von innen aufgeschlossen worden.
Es war die ganze Zeit jemand hier mit mir im Keller.
Alles in mir zieht sich zusammen. Ganz langsam nimmt die Welt um mich Konturen an. Aus Schwarz wird Grau. Mühsam stehe ich auf, meine Beine sind eingeschlafen. Stolpernd komme ich an der Tür an. Direkt daneben liegt meine Tasche. Er hat sie dahin gelegt. Während ich im Dunkeln auf dem Weg zur Tür war, muss er sie von meinem Rad genommen haben. Als ich zurück zu meinem Rad gekrabbelt bin, ist er zur Tür gegangen und hat meine Tasche da abgelegt. Er hat mit mir Verstecken und Fangen gespielt. Er hat mich gehört. Heulen, schluchzen, schreien, stolpern. Hat ihm das Spaß gemacht? Irgendwann konnte er sein Lachen nicht mehr unterdrücken. Oder sollte ich ihn hören?
Ich bin wie betäubt. Völlig erschöpft. Selbst das trübe Licht vor der Tür tut in meinen Augen weh. Mein Körper fühlt sich erschlagen an. Fühlt sich geschlagen an. Meine Klamotten sind völlig verdreckt. Eine Fingerkuppe ist ganz blutig. Ich habe mir einen Fingernagel tief eingerissen, als ich über den Boden gekrochen bin. Mein Gesicht ist aufgequollen. Ein paar Schüler gehen an mir vorbei in den Keller. Sie gucken irritiert, sagen aber nichts. Hätten die nicht vor einer halben Stunde kommen können? Sie fahren an mir vorbei, quatschen miteinander. Erst als sie schon ein paar Hundert Meter weg sind, brülle ich ihnen hinterher: »Bleibt hier.«
Sie hören nichts oder wollen nichts hören.
Wie soll ich denn jetzt an mein Rad kommen? Soll ich jetzt wieder quer durch den dunklen Raum gehen? Und was, wenn dann wieder die Tür zufällt? Wenn er hier irgendwo
Weitere Kostenlose Bücher