Anne Gracie
kleinen Röllchen umgingen.
„Wir
benutzen diese kleinen Andenken, damit Mütter ihre Kinder identifizieren
können, falls das erforderlich ist“, erklärte die Oberschwester. „Kommt
Ihnen irgendetwas davon bekannt vor, Madam?“
„Nein,
nichts“, erwiderte Nell mit erstickter Stimme. „Nichts.“ Sie
trocknete ihre Tränen mit dem Taschentuch, das Harry ihr reichte. Wenn sie
gewusst hätte, dass man ihr Torie wegnehmen würde, hätte sie auch etwas bei ihr
versteckt, durch das sie identifiziert werden konnte.
„Nicht jede
Mutter hinterlässt so ein Liebespfand“, sagte die Schwester.
Nell sah
hoffnungsvoll auf. „Kann ich mir die Babys nicht einmal ansehen?“, fragte
sie. Sie würde Torie sofort wieder erkennen, da war sie sich ganz sicher, auch
wenn sie sie schon seit sechs Wochen und einem Tag nicht mehr gesehen hatte.
„Madam, wir
haben hier keine Babys“, antwortete die Frau. „Für die ersten vier, fünf
Lebensjahre schicken wir sie zu Ammen auf dem Land, dann erst kommen sie
hierher zurück, wo sie erzogen werden und Unterricht erhalten.“
„Wo sind
diese Ammen?“, erkundigte sie sich eifrig.
„Der
Direktor verfügt über die genauen Einzelheiten, aber ich fürchte, ohne sichere
Identifizierung wird er Ihnen keine Auskunft geben.“
„Aber
...“
„Ich
spreche mit dem Direktor“, unterbrach Harry Nell. „Du bleibst hier.“
Kurze Zeit
später kam er mit finsterer Miene aus dem Büro des Direktors zurück. Er bot
Nell den Arm und verließ mit ihr das Gebäude. Nell musste beinahe rennen, um
mit ihm Schritt halten zu können.
„Und?“,
fragte sie atemlos.
„Ich habe
eine Liste aller Ammen, die in der fraglichen Zeit ein kleines Mädchen
zugewiesen bekommen haben.“ Er hob sie auf den Zweispänner. „Es sind
sechs, aber der Direktor glaubt, keins davon ist Torie.“
„Können wir
trotzdem nachsehen?“
„Das können
wir“, erwiderte er grimmig.
Es wurde schon dunkel, als sie sich auf den
Rückweg nach London machten. Nell war froh, dass Harry kein großer Redner war.
Sie war zu müde, um sich zu unterhalten, zu erschöpft und mutlos.
Sie hatten
jede einzelne der Ammen auf der Liste besucht. Alle von ihnen lebten auf dem
Land in Dörfern drei bis vier Meilen außerhalb von London. Das Landleben sollte
für Babys angeblich gesünder sein als die ständig neblige Stadt mit dem
Gestank, der nachts vom Fluss aufstieg und Krankheiten mit sich brachte.
Vor jedem
Cottage, vor dem sie anhielten, war Nell angespannt und nervös gewesen. Würde
dieses Baby jetzt ihre Tochter sein? Würde sie mit Torie im Arm wieder von hier
wegfahren?
Jedes Mal
hatte Harry ihre Hand weiterhin festgehalten, nachdem er Nell von dem
Zweispänner gehoben hatte. Allmählich hatte sie sich an diese stumme,
verlässliche Unterstützung gewöhnt; sie hatte sie richtiggehend gebraucht.
Denn jedes
Mal hatten sich ihre Hoffnungen zerschlagen.
„Das ist
erst der erste Tag“, sagte er unvermittelt. „Es gibt Dutzende von
Armenhäusern und ähnlichen Einrichtungen in London.“
„Ich
weiß.“
Der leichte
Zweispänner fuhr durch ein besonders tiefes Schlagloch und Nell wurde kräftig
durchgeschüttelt. Sofort nahm Harry die Zügel in eine Hand, legte den Arm um
Nell und zog sie fest an sich. Er machte keine Anstalten, den Arm wieder
fortzunehmen, und Nell War froh darüber, nicht nur wegen der Sicherheit,
sondern wegen seiner tröstlichen Wärme. Er war so groß, stark und beruhigend.
Nell hatte
noch nie einen Mann wie ihn kennengelernt. In ihrem Leben hatte sie immer nur
Schwätzer gekannt, Lügner, Träumer, Egoisten.
Harry
Morant war kein Schwätzer. Er handelte. Und er gab. Sie hatten an diesem einen
Tag eine weitere Strecke zurückgelegt als
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