Anne Gracie
Resten der Fruchtblase befreite und sich mehr und mehr
mit ihm vertraut machte. Das war ein Anblick, den Harry niemals leid wurde.
Er sah die
Frau von der Seite her an und merkte, dass ihr wieder eine Träne über die Wange
lief, während sie die zärtliche Annäherung zwischen Mutter und Kind verfolgte.
Ihr weicher, verwundbarer Mund bebte. Sie biss sich auf die Lippe und wischte
beinahe wütend die Träne fort.
Ich
weine nie. So etwas ist sinnlos.
„Wohnen Sie
hier in der Nähe?“, erkundigte er sich ruhig.
Sie schwieg
einen Moment, dann sagte sie: „In den alten Zeiten hat man geglaubt, die Tiere
leckten ihre Jungen, um ihnen ihre Gestalt zu geben.“
Harry
entging nicht, dass sie ihm auswich. Das war nur recht und billig, schließlich
kannte sie ihn gar nicht. Doch das ließ sich ändern. „Übrigens, ich bin Harry
Morant.“ Er streckte die Hand aus.
Sie
zögerte, schüttelte sie dann aber. „Ich bin Nell ... einfach nur Nell.“
„Sehr
erfreut, Einfach-nur-Nell“, erwiderte er. Ihr Händedruck war fest. Ihre
Haut war zwar weich, trotzdem spürte er ein paar alte Schwielen. Irgendwann
musste Nell harte körperliche Arbeit geleistet haben.
Sie trug
keinen Ring. Ihre Kleidung saß schlecht und war altmodisch, aber der Stoff war
von guter Qualität.
Sie hatte
zwar nur wenig geredet, doch er hatte keinerlei Dialekt aus ihrer Sprache
herausgehört.
Wer war
diese Frau?
„Ich nehme
an, Sie sind wegen Ihrer Handschuhe und Ihres Huts gekommen“, sagte sie
nach einer Weile.
„Nein, ich
...“
Die
Stalltür ging knarrend ein Stück weiter auf. „Mr Morant?“, rief Pedlington
und seine Stimme hallte durch den Stall. „Ist dieses Tier ... ach, da ist es
ja. Ich warte lieber draußen auf Sie.“
Harry
schmunzelte. „Er hat Angst vor Ihrem Hund“, erklärte er Nell.
„Sie tut
niemandem etwas.“
„Ich weiß.
Kommen Sie, wir wollen Pedlington aus seiner Notlage erlösen.“
„Aber ich
...“
„Toffee
braucht Sie im Moment nicht. Sie muss mit ihrem Fohlen allein sein.“
Harry nahm ihren Arm und nach kurzem Zögern ließ sie sich von ihm den langen
Hauptgang entlang zur Stalltür führen.
Nach ein
paar Schritten warf sie ihm einen Seitenblick zu. „Haben Sie Schmerzen im
Bein?“
Eine ganz
natürliche Frage, angesichts seines Hinkens. Jeder stellte sie früher oder
später. Seine Antwort überraschte ihn jedoch selbst. „Nein, das war schon
immer so, seit ich mich erinnern kann.“ Normalerweise schob er eine
Kriegsverletzung vor. Die Leute konnten so viel leichter mit einem
heldenhaften, verwundeten Soldaten umgehen als mit der Wahrheit – dass er seit
frühester Kindheit ein Krüppel war.
Als sie den
Eingang erreichten, sprang die Hündin auf sie zu. „Braves Mädchen,
Freckles.“ Nell hob den Schal und die Handschuhe auf. Sie klopfte den
Staub von ihnen ab und fügte erklärend hinzu: „Sie folgt mir auf Schritt und
Tritt, es sei denn, ich gebe ihr etwas zum Bewachen. Ich wollte sie während der
Geburt nicht in Toffees Nähe haben.“ Sie nahm Hut und Mantel vom Haken und
reichte Harry den Hut und die Handschuhe. „Vielen Dank, dass Sie sie mir
geliehen haben. Sie haben mich mehr gewärmt, als Sie sich vorstellen
können.“
Harry nahm
sie unbeholfen entgegen. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Eigentlich wollte
er ihr anbieten, sie sollte sie behalten, aber das war Unsinn. Sie brauchte sie
jetzt nicht mehr, außerdem waren sie ihr ohnehin viel zu groß.
Sie griff
nach einer Lederschnur, schlang sie der Hündin um den Hals und trat durch die
Stalltür hinaus ins helle Sonnenlicht.
„Alles ist
sicher verschlossen ...“ Pedlington blieb wie angewurzelt stehen und
starrte die Frau an.
„Das ist
...“, begann Harry.
„Lady Helen
Freymore, ich weiß“, erwiderte Pedlington und klang nicht gerade erfreut.
Lady
Helen
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