Anne Gracie
Wasser, Seife und eine
ordentliche Wäsche, um wieder in Schwung zu kommen. Sie wusch sich, so
gründlich sie konnte – sie hatte keine Zeit für ein Bad in warmem Wasser –, und
suchte dann nach einem für eine Gesellschaftsdame passenden Kleid.
Seit ihrem
Debüt vor fünf Jahren hatte sie immer schlichte dunkle Kleidung bevorzugt, denn
sie wollte kein Aufsehen erregen. Sie entschied sich für ein moosgrünes
Wollkleid mit hoch angesetzter Taille und einen graugrünen langen Mantel mit
Zinnknöpfen.
Wie
seltsam, dass der Mann mit den flammenden grauen Augen hier war. Dass er ihr
Zuhause gekauft hatte. Und ihr Pferd samt dem Fohlen. Die beiden würden bei ihm
gut aufgehoben sein, da war sie sich ganz sicher.
Sie packte
ihre letzten Sachen ein und sah zu dem Regal, auf dem sich, seit sie denken
konnte, ihre Puppensammlung befand. Es waren mindestens zwölf wirklich schöne
Puppen in einwandfreiem Zustand. Immer wenn Papa beim Kartenspiel gewonnen
hatte, hatte er ihr eine Puppe aus London mitgebracht. Sie saßen alle gerade in
einer Reihe, lächelnd, sauber, engelsgleich. Nur die Puppe am Rand war etwas
schief in sich zusammengesunken – Ella, die älteste, die am meisten abgenutzte
und am meisten geliebte von Nells Puppen.
Mama hatte
Ella selbst gemacht. Ella war die Kurzform von Cinderella und sie war eine
Wandelpuppe. Eigentlich trug sie ein schäbiges
graues Kleid mit einer Schürze und hatte ein trauriges Gesicht. Doch wenn man
sie umdrehte, fiel das schäbige Kleid über ihr Gesicht und eine glücklich
lächelnde Ella in einem wunderschönen roten Ballkleid kam zum Vorschein.
Nell hatte
nie viel mit Puppen gespielt – Hunde und Pferde waren ihr immer lieber gewesen
–, aber als Mama gestorben war, hatte sie sich angewöhnt, Ella abends mit ins
Bett zu nehmen. Ella war nicht nur von Mamas Händen geschaffen worden, ihre
Kleider waren aus Fetzen von Mamas eigenen Kleidern gemacht. Nell konnte sich
noch daran erinnern, wie Mama das schöne rote Ballkleid getragen hatte.
Die arme
Ella sah mittlerweile ziemlich mitgenommen aus; eins ihrer Knopfaugen fehlte,
die meisten ihrer Haare waren von irgendeinem Hund zerkaut worden, und das
rote Kleid war ausgeblichen. In Nells Reisetasche war kein Platz mehr, aber
sie konnte Ella unmöglich dort zurücklassen, wo man sie unweigerlich in den
Müll werfen würde.
Sie
zögerte, nahm dann ein Paar Schuhe aus der Tasche, die sie ohnehin drückten,
und packte stattdessen Ella ein. Es war albern für eine erwachsene Frau, eine
Puppe behalten zu wollen, aber sie konnte nicht anders. Ella zurückzulassen
war, als würde sie Mama zurücklassen.
Und wenn
sie jemals Mamas Wandelpuppe gebraucht hatte, dann jetzt.
Sie schloss
die Tasche, sah sich ein letztes Mal in ihrem Zimmer um und ging hinaus. Sie
nahm nicht sofort die Treppe, sondern ging vorher noch in das Arbeitszimmer.
Sie schrieb eine Namensliste auf ein Blatt Papier, steckte es sich
zusammengefaltet in den Ärmel und machte sich auf den Weg nach unten.
Zornige
Stimmen drangen aus der Küche, die sonst trockene, sachliche des Anwalts klang
jetzt gereizt und wurde übertönt von einer lauten, beinahe schrillen und derben
Stimme, die Nell schon von klein auf kannte und liebte.
Wenn dieser
Mann Aggie schlecht behandelte ... Nell eilte in Richtung Küche.
„Nein, Mr
Etepetete, ich werde nicht von hier ...“, sagte Aggie gerade
angriffslustig.
„Sie
begehen Hausfriedensbruch, Madam, und ...“
„Von wegen
,Madam`, Sie Wurm! Hausfriedensbruch?“ Aggie schnaubte. „Was glauben Sie,
mit wem Sie reden? Ich bin Aggie Deane, und ich habe hier mehr Jahre gelebt,
als Sie Haare auf dem Kopf haben! Solange Miss Nell hier ist, bleibe ich ebenfalls.
Es
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