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Antarktis 2020

Antarktis 2020

Titel: Antarktis 2020 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kröger
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zu befinden.
    Vorsorglich wurden den Reisenden die Antarktispelze abgenommen, sie konnten in gewöhnlichen Straßenanzügen die Bahnstation verlassen.
    Die Amerikaner verabschiedeten sich herzlich von Thomas; den Wunsch, Mirny zu besichtigen, hatten sie nicht. Nichts sollte die Heimreise verzögern.
    Der lange Jim sagte beim Händeschütteln, wobei Thomas den Eindruck hatte, daß es ihm die Mittelhandknochen zermalmen würde: »Laßt den Deland nicht fallen – der ist nicht schlecht; er geht sonst vor die Hunde…«
    Nachdenklich verließ Thomas die Bahnstation und blieb vor dem flachen weißen Gebäude überrascht stehen; er genoß den Anblick, der sich ihm bot. Wochenlang hatte er draußen nur Eis und Schnee gesehen, nur noch an Sturm und Frost gedacht. Aber es war nicht nur das. Eine so gelungene Komposition von Pflanzen, Gebäuden und Farben – ja selbst die Menschen, die sich in seinem Blickfeld befanden, schienen einbezogen – ließ in Thomas ein unbeschreibliches Glücksgefühl aufkommen, und er meinte, mit ihm müßten das alle Menschen, die zum erstenmal Mirny erlebten, so empfinden.
    Weder der Eindruck eines Glashauses noch der einer künstlichen Stadt entstand. Die Kuppel war nahtlos und bildete gleichsam den unsichtbaren Übergang zum Himmel.
    Thomas erinnerte sich alter Fotografien, die Mirny zeigten, wie es sich dem Betrachter noch um die Jahrtausendwende bot: einige Holzhäuser, Treibstofffässer, gespannte Seile und Wetterhäuser, schwere Raupenfahrzeuge, rauchende Schornsteine, verwehte Vorratsschuppen, hier und da die Spitze eines Nunatakkers, die aus dem Eis ragte. Eine untergeordnete, von anderen in ihrer Bedeutung zurückgedrängte Antarktisstation. Das schönste auf diesen Bildern waren die Pinguine.
    Jetzt waren die Nunatakker kleine, mit schnell wachsenden Pflanzen bedeckte Höhenzüge, die Teiche umschlossen. In die Felsen gebaute, freundliche, bungalowähnliche Häuser, die sicher alle Zweckbauten – Unterkünfte und Laboratorien – waren, wiesen keine Unterschiede zu irgendwelchen Wohnsiedlungen auf, es sei denn, daß hier die sonst üblichen Gartenzäune und die mitunter die Landschaft verschandelnden Aufbauten und Schuppen, Zeugen des menschlichen Verwahrbedürfnisses und Ausdruck der Bodenständigkeit, fehlten. Es gab keine Straßen und keine Fahrzeuge, nur in den Fels gehauene Wege, und es gab viel Grün, subtropische Gewächse, deren Wurzelballen mit der Erde in Pflanzgruben versenkt waren.
    Thomas wußte, daß die Siedlung ganze drei Kilometer im Durchmesser maß, er sie also bequem in einer halben Stunde durchqueren konnte, er wußte, daß die Kuppel neben ihrer eigenen Stabilität zwanzig Stützpfeiler besaß, die geschickt in Bauwerken, die bis zu ihr hinaufreichten, verborgen waren, und daß im übrigen zur Sicherheit ständiger geringer Überdruck erzeugt wurde. Und trotzdem blieb sein erster Eindruck: eine Urlaubersiedlung im Kaukasus.
    Thomas empfand das Erlebnis Mirny als das seine, als eines, das nur wenigen Menschen zuteil wurde, und dieser Gedanke war dazu angetan, ihn in diesem Augenblick mit seinem Probepraktikum zu versöhnen. Er sah zum erstenmal seit Monaten wieder einige Kinder herumtoben, er sah Menschen vor den Häusern sitzen, sah sie Spazierengehen, war sich dabei bewußt, daß es sich fast ausschließlich um Wissenschaftler und um Werktätige, die Dienstleistungen besorgten, handelte. Hier gab es keine Müßiggänger oder etwa Touristen.
    Er spürte die beglückende Ruhe, die von Mirny ausging. Er empfand plötzlich so etwas wie Neid auf alle Menschen, die er traf. Ich muß wieder im Eis herumkrabbeln, dachte er ärgerlich, jeder andere hat es besser.
    Thomas schlenderte zwischen Palmen eine Promenade entlang, Menschen begegneten ihm, Mädchen aus den Labors, sie lachten, unterhielten sich vergnügt wie in den Straßen von Moskau oder Berlin.
    Was tat es, wenn die Vegetation und die eigenartige, ruhige Atmosphäre, ohne einen Windhauch und trotzdem prickelnd frisch, nicht zu diesem Bild paßten.
    Thomas beschloß, sofort Evelyn Kavor zu suchen, ohne jemanden nach dem Weg zu fragen, sie zu überraschen. Unterwegs betrachtete er alles sehr genau, auch das hohe Gebäude des Verwaltungstraktes Antarktika, das gleichzeitig die Mittelstütze der Kuppel barg.
    Er stand an der Gedenktafel, denen geweiht, die für die Erforschung des sechsten Kontinents ihr Leben ließen, von Scott bis Popp, einem verunglückten Forscher aus der DDR, und bis Lewtow, dem Raupenfahrer,

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