ARALORN - Die Wandlerin: Roman (German Edition)
anzuerkennen. Seit das Volk ihrer Mutter in den nördlichen Bergen von Reth lebte und dem König alljährlich in Form von exquisiten Tapisseriewaren und hochwertigem Handwerksgerät (bei Nacht und Nebel von unsichtbaren Boten überbracht) Tribut entrichtete, fiel es den Rethern nicht mehr ganz so leicht, sie als ein Gerücht abzutun.
Volksmärchen ermahnten die Bewohner von Städten und Dörfern, niemals nachts in den Wald hinaus zu gehen, oder es mochte geschehen, dass sie von Gestaltwandlern oder anderen Anwendern grüner Magie gefressen würden, die in den undurchdringlichen Tiefen des Gehölzes lauerten. In Anbetracht der Feindseligkeit, die die Gestaltwandler gegenüber allzu aufdringlichen Menschen empfanden, fürchtete Aralorn, dass an diesen Geschichten etwas Wahres dran sein könnte. Die königliche Familie war im Allgemeinen nicht so skeptisch, vermutlich aufgrund des jährlichen Tributs, den sie erhielt – und des Umstands, dass sie im südlichen Reth lebte, weit entfernt von jedem Gestaltwandler-Außenposten.
Myr nickte dem Magier zu, der daraufhin sagte: »Ich verbürge mich dafür, dass sie es nicht böse mit Euch meint.« Dabei klangen seine Worte alles andere als dumpf – dies war wohl doch auf den geräuschdämpfenden Beutel zurückzuführen gewesen –, im Gegenteil, seine Stimme klang noch ausgeprägter als Aralorn sie in Erinnerung hatte. Vielleicht war es die Maske.
»Sie ist ein außerordentliches Sprachtalent«, fuhr Wolf fort. »Und ich brauche jemanden, der mir bei meinen Nachforschungen hilft. Falls sie nicht gerade mit anderen Dingen befasst ist, könnte es nicht schaden, wenn wir sie mit ins Feldlager nehmen. Sie kann kämpfen, und die Götter wissen, wie dringend wir Kämpfer brauchen. Außerdem könnte ihr Gefahr von dem ae’Magi drohen, falls er herausfinden sollte, wer ihn da bespitzelt hat.«
»Ihr habt den Erzmagier ausspioniert?« Myr sah sie an und zog eine Augenbraue hoch.
Aralorn zuckte die Achseln. »Es war nicht gerade mein Lieblingsauftrag, aber auf jeden Fall einer der interessanteren.« Für einen flüchtigen Moment veränderte sie ihr Gesicht in das, welches er in dem Käfig des ae’Magi gesehen hatte, dann nahm es wieder seine normalen Züge an.
Myr machte ein bisschen den Eindruck, als fühle er sich nicht recht wohl – mit anzusehen, wie jemand sein Gesicht zerlaufen ließ, hatte mitunter diese Wirkung –, dann blinzelte er einige Male. Schließlich lächelte er. »Ich verstehe. Wohlan also, Lady, seid uns willkommen. Ich darf Euch einladen, mit uns in unser bescheidenes Feldlager zu kommen.«
Myr neigte leicht den Kopf. Es war exakt das rechte Maß von Verbeugung, wie es für einen männlichen Monarchen angemessen war, der einer Frau, die weder seine Untertanin noch Mitglied des Königshauses war, ein höfliches Anerbieten zuteil werden ließ.
Im Gegenzug vollführte sie, in den Sachen des toten Gastwirtsohnes, exakt den Knicks, den sie als Tochter ihres Vaters vor ihm gemacht hätte. Die rethische Aristokratie legte allergrößten Wert auf standesgemäße Etikette, und sie war sich sicher, ihn mit dieser Geste verblüfft zu haben.
Das hatte sie durchaus, denn er fragte: » Wer seid Ihr?«
Sie sah ihn mit einem entschuldigenden Lächeln an, während sie an dem unangenehm engen Vorderteil ihre Jacke zupfte. »Lady Aralorn von Lammfeste, zu Euren Diensten.«
»Eine von Henricks Töchtern.« In Myrs Stimme schwang ein Anflug von Ungläubigkeit.
Aralorn nickte, lächelte ein weiteres Mal. »Ich weiß, ich ähnle ihm nicht sehr, nicht wahr? Das fand er auch immer. Ich war eine ziemliche Enttäuschung für ihn.« Sie krempelte ihre Ärmel hoch, bis sie ihre Hände wieder sehen konnte.
»Nein, das meine ich nicht«, sagte Myr. »Ich hab Euch bei Hofe gesehen – vor langer Zeit. Ihr seid sein ältestes Kind?«
Sie lachte. »Ihr müsst damals zehn gewesen sein. Ich bin zwar die älteste Tochter, aber ich habe einen Bruder, der ein Jahr älter ist als ich. Wir sind beide die unehelichen Folgen jugendlicher Torheit. Die Mutter meines älteren Bruders war eine Hausmagd, und meine Mutter eine Gestaltwandlerin, die dem armen Papa in den nahe gelegenen Wäldern den Kopf verdreht hat. Insgesamt sind wir vierzehn, da kann ich verstehen, dass Ihr Schwierigkeiten habt, nicht durcheinanderzukommen. Meine Geschwister sind allesamt das Abbild meines Vaters, sehr zum Leidwesen meiner Schwestern. Aber meine Brüder gelten gemeinhin als ganz ansehnliche Burschen.«
Die
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