ARALORN - Die Wandlerin: Roman (German Edition)
Beschreibung ihrer Familie entlockte Myr ein Lachen. Ihre Schwestern waren alle recht hübsch, Goldstücke wie ihr Vater – und wie ihr Vater überragten sie die meisten Männer um eine gute Handspanne.
»Und was hat Euch schließlich nach Sianim verschlagen?«
Sie neigte leicht den Kopf, überlegte, wie sie die Antwort am besten formulierte. »Ich bin wohl zu sehr die Tochter meines Vaters, um mit Nähen und dem Erlernen gepflegter Konversation zufrieden zu sein. Er brachte mir zusammen mit meinen Brüdern den Schwertkampf bei, weil ich ihn darum bat. Als die Zeit für mich gekommen war, mich an den Hof zu begeben, war sowohl ihm wie mir vollkommen klar, dass ich als Lady nichts taugen würde. Also schenkte er mir eines seiner Pferde und schickte mich in der Gewissheit, dass ich meinen Weg schon machen würde, hinaus in die Welt.«
In Wahrheit war die Sache viel komplizierter gewesen, doch im Kern war alles gesagt. Der Rest würde den König von Reth kaum interessieren. Während sie sprach, versuchte sie ihre Hosenbeine hochzukrempeln. Schließlich schnitt sie den überflüssigen Teil einfach mit ihrem Dolch ab. Was die Stiefel betraf, so ließ sich da wohl auf die Schnelle nichts machen.
»Klingt ganz nach dem Löwen von Lammfeste. Er ist der einzige Mann, den ich kenne, dem alle anderen egal genug sind, um dergleichen zu tun.« Myr schüttelte den Kopf.
Sich wieder zu ihrer vollen, wenig beeindruckenden Größe aufrichtend, fuhr Aralorn fort. »Wenn ich mich recht erinnere, meinte er, dass, wenn schon keiner wage, ihm ob seines Namens ›Löwe von Lammfeste‹ ins Gesicht zu lachen, dann würde erst recht keiner etwas wegen einer nicht anwesenden Tochter sagen.«
»Wenn die Herrschaften mit Reden fertig sind, wäre es vielleicht am besten, wenn wir zum Lagerplatz aufbrechen würden.« Die raue Stimme klang angespannt, und Wolfs Augen waren auf irgendeinen Punkt in der Ferne gerichtet.
»Kommt jemand?« Im Nu wurde aus dem Höfling Myr der Krieger.
Wolf grunzte. »Nicht hierher, aber nah genug, dass wir uns schleunigst verziehen sollten. Ein solcher Ausstoß von Magie dürfte einige Aufmerksamkeit auf sich ziehen.«
Während die beiden Männer ihre Sachen zusammenpackten, eilte Aralorn geduckt durch die Bäume, um ihr Pferd zu holen. Während sie den Sattelgurt überprüfte, sagte sie murmelnd zu Schimmer: »Ich frag mich, was für einen Unfug unser Freund Wolf im Schilde führen mag.«
4
Als Aralorn erwachte, um ihrem ersten Tag in Myrs Lager entgegenzusehen, war es noch dunkel. Mit leisen Bewegungen, damit sie die beiden Frauen, die das Quartier mit ihr geteilt hatten, nicht weckte, schlüpfte sie aus dem Zelt. Die grobe Klappe band sie hinter sich wieder zu, damit die kalte frühmorgendliche Luft nicht eindringen konnte.
Die meisten Zelte in dem Lager waren behelfsmäßig. Einige stellten in wahrer Feldsoldaten-Manier nichts weiter als eine über einen Stab oder eine Leine gespannte Decke dar. Das einzige Zelt, das diesen Namen verdiente, gehörte Myr, der es ohne Murren mit mehreren kleineren Kindern teilte.
Als sie an Myrs Zelt in der Nähe der Feuerstelle vorbeikam, bedachte sie den an der Seite aufgestickten königlichen Drachen mit einem respektvollen Nicken, doch er starrte nur unheilvoll zurück. In dem flackernden Schein des Feuers wirkten seine grüngoldenen Augen schon beinahe lebendig.
Ebenfalls nicht unweit der Feuerstelle befand sich eine der wenigen Holzkonstruktionen des Lagers. Die Küche war kaum mehr als ein dreiseitiger Verschlag, doch immerhin hielt er den Proviant trocken. Der Feldkoch war bereits auf den Beinen; er war damit beschäftigt, im Laternenlicht irgendetwas zu zerhacken. Er unterbrach seine Arbeit aber gerade lang genug, um Aralorn mit einem kaum freundlicheren Blick anzusehen, als es der des Drachen gewesen war. Aralorn grinste ihn vergnügt an und ging weiter ihres Weges.
Das Lager lag in einem kleinen Tal, nicht größer als die weiträumigste Reitarena in Sianim, und einen halben Tagesritt nördlich der rethischen Grenze. Es war lang und schmal, und mitten hindurch plätscherte ein kleiner Fluss, der, wie sie vermutete, im Frühjahr, wenn die oberste Schneeschicht von den Berggipfeln schmolz, wesentlich mehr Wasser führen würde. Jetzt dagegen war das Ufer matschig und ihre Stiefel machten, als sie darüberschritt, um etwas zu trinken und ihr Gesicht mit Wasser zu benetzen, leise schmatzende Geräusche.
Die Zelte standen am östlichen Ende des Tals, nahe des
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