ARALORN - Die Wandlerin: Roman (German Edition)
dünne, harmlose Buch auf ihre Seite des Tischs. Dann wandte er sich wieder dem zu, was er »die unleserlichen Kritzeleien eines mittelmäßigen und halb übergeschnappten Zauberers« nannte, »der vor mehreren Jahrhunderten in wohlverdienter Vergessenheit versank, sicher vor den Verwünschungen eines unausgebildeten Magiers, wie mächtig auch immer«.
Aralorn setzte sich wieder und lauschte einen Moment lang interessiert seinem gedämpften Gemurmel. Die Söldner von Sianim verfügten ja schon über eine beachtliche Bandbreite an Flüchen, größtenteils vulgären, doch Wolfs Schimpfreden hatten ganz ohne Frage einen kreativen Einschlag.
Immer noch lächelnd schlug Aralorn das kleine Buch auf und begann zu lesen. Wie die meisten Bücher, die sie herauspickte, war auch dieses eine Sammlung von Geschichten. Es war in einer alten rethischen Mundart geschrieben, die zu lesen ihr keine allzu große Mühe bereitete. Die erste Geschichte war eine Variante von »Der Schmied«, die sie noch nicht kannte. Nicht ohne ein schlechtes Gewissen, da sie wusste, dass ihnen das in keinster Weise bei ihrem Kampf gegen den ae’Magi weiterhelfen würde, machte sie sich rasch ein paar Notizen und hielt fest, inwieweit sich diese Version von den anderen unterschied. Dann wandte sie sich der nächsten Geschichte zu.
Der Verfasser war gar nicht so übel, und bald schon las Aralorn die Geschichten, anstatt sie nur zu überfliegen, notierte sich hier eine besonders gelungene Ausdrucksweise und dort die ein oder andere Einzelheit. Sie hatte die letzte Geschichte in dem Buch etwa zu einem Drittel durch, als ihr mit einem Mal bewusst wurde, was sie da eigentlich las. Sie hielt inne und kehrte wieder zum Anfang zurück, las den Text nun als reine Informationsquelle statt zur Erbauung.
Offenbar hatte der ae’Magi (der, welcher zu der Zeit, als das Buch geschrieben worden war, geherrscht hatte, wann immer auch das gewesen sein mochte) sich als Lehrling einen neuen Zauberspruch ausgedacht. Stolz führte er ihn seinem Meister vor, zu dessen ausgesprochenem Pech. Es handelte sich nämlich um einen Zauber, mit dem sich Magie zunichte machen ließ – ein Effekt, den der zweihundert Jahre alte Meister des Lehrlings wohl weit mehr zu würdigen gewusst hätte, hätte er sich nicht innerhalb des Wirkungsbereiches befunden.
Vergeblich suchte Aralorn nach dem Namen des lehrlingsgeschädigten ae’Magi oder wenigstens einem Hinweis, wann das Buch geschrieben worden war. Dummerweise war es in Reth nie üblich gewesen, das Entstehungsjahr eines Buches oder den Namen seines Verfassers zu vermerken. Bei einer Sammlung von Geschichten, von denen die meisten Volkslegenden waren, war es praktisch unmöglich, das Buch in einem Zeitraum von zweihundert Jahren verlässlich zu datieren, vor allem dann nicht, wenn es, wie wahrscheinlich in diesem Fall, die Abschrift eines anderen Buches war.
Seufzend legte Aralorn das Buch beiseite und wollte schon Wolf um Rat fragen. Doch zum Glück blickte sie, bevor sie den Mund aufmachte, zu ihm hinüber. Er war gerade dabei, einen Aufhebungszauber zu wirken, um den Verschluss eines dicken verschimmelten Buches zu öffnen. Sie hatte sich so an das magische Fluidum des Lichts gewöhnt, dass ihr der plötzliche Anstieg von Magie gar nicht aufgefallen war.
Er schien so seine Probleme mit dem Verschluss zu haben, obwohl sich das wegen seines maskierten Gesichts schwer beurteilen ließ. Inzwischen leicht gereizt wegen seiner Verkleidung runzelte sie die Stirn.
»Stört dich das Ding eigentlich nicht?«, fragte sie in leichtem Plauderton, kaum dass das Schloss mit einer theatralischen Verpuffung aus blauem Rauch aufgeschnappt war.
»Welches Ding?« Er strich die letzten bläulichen Staubreste von dem Buchdeckel und schlug es irgendwo auf.
»Die Maske. Juckt es nicht, wenn du darunter schwitzt?«
»Wölfe schwitzen nicht.« Seine Stimme klang so gleichgültig, dass sie augenblicklich hellhörig wurde; es war offensichtlich, dass er dem Thema aus dem Weg gehen wollte. Und außerdem schwitzte er sehr wohl – jedenfalls in seiner menschlichen Gestalt.
»Weißt du«, sagte sie, während sie mit dem Finger einen Staubfleck von einem ledernen Bucheinband rubbelte, »als mein Vater mich mitnahm, um die Gestaltwandler zu besuchen, dachte ich, es könnte richtig lustig werden, jemand anderes zu sein, wann immer ich wollte. Also lernte ich und arbeitete daran, bis ich irgendwann nach Lust und Laune das Aussehen fast jeder Person
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