Artefakt
Kühnheit war ihr jetzt ins Blut übergegangen, und sie fand Gefallen an der Herausforderung.
Die Cambridge Street war ungewöhnlich verstopft. Immer wieder schaute sie auf ihre Armbanduhr. Noch war genug Zeit, sich fertigzumachen, aber nur knapp.
Sie passierte das JFK-Gebäude, bog in die Tremont Street, hielt sich rechts und stellte den Wagen in einer Zone mit Parkverbot ab. An der Kreuzung Tremont und School Street machte sie ihren Onkel Alexander aus, der mit zwei irischen Polizisten redete. Sie umarmte ihn, zeigte zu ihrem Wagen, und aus der Art und Weise, wie die Polizisten an ihre Mützen tippten und nickten, erkannte sie, daß Onkel Alexander sie bereits bestochen hatte. Außerdem bemerkte sie jetzt, daß das Parkverbotsschild provisorisch war, nur vorübergehend aufgestellt; dieser Block war sonst frei, und es gab genug Platz. Onkel Alexander machte einen Scherz, und sie lachte, atmete befreit auf und spürte, wie die verkrampfte Beklemmung von ihr wich.
Die King’s Chapel hockte wie eine unbezähmbare Bulldogge der Vergangenheit, gedrungen, eckig und grau, zwischen den geistlosen Hochhäusern der School Street mit ihren endlos wiederholten, monotonen Fensterreihen. Claire eilte über die Tremont Street, als die Ampel umschaltete. Vor der King’s Chapel sprach Onkel Charlie mit Tante Edna, so vertieft in den Klatsch, daß sie Claire nicht zwischen den ehrfurchteinflößenden Säulen hindurch und ins Hauptportal schlüpfen sahen.
Ein kleines Schild warnte PRIVATE FEIERLICHKEIT. Gut; keine Touristen. Ihre herumtappende, ahnungslos glotzende Aufmerksamkeit hatte für Claire immer die Stimmung von Kirchen beeinträchtigt und ihnen in krassen Fällen eine Atmosphäre verliehen, die an Öffentlichkeit einem Bahnhof nicht nachstand. Die King’s Chapel war ein historischer Ort. Ihre Granitquader waren 1749 auf Barken von den Steinbrüchen in Quincy herbeigeschafft worden. Ihre bedeutungsschwere Feierlichkeit hüllte Claire ein, und sie stand eine Weile und ließ den Raum auf sich wirken, unbemerkt von den frühen Besuchern in den vorderen Bänken. Die steinernen anglikanischen Werte, die der König in die Neue Welt eingeführt hatte, waren längst zu dem stoischen Bostoner Kompromiß mit der Zukunft, der Lehre der Unitarier, verblaßt. Der Kirche fehlte noch immer ihr weißer, neugotisch-protestantischer Kirchturm, obwohl hartbedrängte Bauausschüsse noch immer von Zeit zu Zeit die über hundert Jahre alten Pläne für einen hervorzogen. Die Vergangenheit erschien hier unausweichlich melancholisch, als erinnerten sich die harmonischen, gedämpften Räumlichkeiten jener Tage, als sie noch der Angelpunkt eines theokratischen Boston gewesen waren. Doch in der Vorhalle gab es Zeichen eines anhaltenden Erfolgs: die chaotische Veranstaltungstafel und der hoffnungsvoll mit religiösen Druckschriften gefüllte Zeitschriftenständer kündigte von innerem Leben.
Sie wandte sich um und stieg die Treppe hinauf, die steil genug war, eines jeden Puritaners ernste Zustimmung zu finden. Hier waren die anderen – ängstlich und nervös, weil sie sich verspätet hatte. Sie brachte die üblichen Entschuldigungen vor und ergab sich ihnen: Mutter, verschiedenen Tanten, Cousinen, alle in geschmackvollem Hellviolett oder Mattgelb oder Braunrot. Die meisten waren von Vermont oder New Hampshire heruntergekommen, wohin so viele der alten Familien sich zurückgezogen hatten; die Anreisezeit hatte eine Trauung am Nachmittag vorgeschrieben. Sie hatten das alte Kleid, von der Urgroßmutter weitergegeben, noch immer schmuck und blendend weiß. Ihr eigenes Kleid verschwand, und der alte Stoff hüllte sie ein, zurechtgezupft von ungeduldigen Fingern. Die Luft hier oben war muffig, trocken von der Zentralheizung und durchdrungen von einem Geruch nach Möbelpolitur. Claire hatte am Vortag drei Stunden in den Frisiersalon investiert und war erleichtert, im Spiegel eine wohlmodellierte Kappe von braunem Haar mit einem leichten Stich ins Blonde zu sehen. Ihre Mutter umschwebte sie, verkürzte den Saum, steckte etwas an den Schultern zusammen, damit die Träger nicht zu sehen seien. Der mit kunstvoller Stickerei geschmückte Schulterumhang schien geradezu übertrieben, beruhigte sie aber mit seiner behaglichen, bergenden Drapierung. Sie drehte sich vor dem Spiegel hin und her, betrachtete sich kritisch und stellte erfreut fest, daß die Falten sich elegant den Konturen ihres Körpers anpaßten; Urgroßmutter mußte die gleiche selbstgefällige
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