Artus-Chroniken 2. Der Schattenfürst
lag ein schmaler, seichter Meeresarm, dahinter kam eine weitere Insel, im Süden und Norden gab es nur Felder und Felsen, und im Osten erhob sich ein sehr kleiner, steiler Hügel, gekrönt von einer Gruppe grauer Felsen, die aussah wie mindestens zwanzig ähnliche Felsformationen, an denen wir an jenem Vormittag vorbeigekommen waren. Merlin lag da wie tot. Ich mußte neben ihm niederknien und das Ohr fast auf seinen Mund legen, um das leise Rasseln seiner mühsamen Atemzüge zu vernehmen. Als ich ihm die Hand auf die Stirn legte, war diese kalt. Ich küßte ihn auf die Wange. »Lebt weiter, Lord«, flüsterte ich ihm zu. »Lebt!«
Nimue wies einen meiner Männer an, einen Speer in den Boden zu stoßen. Er zwang die Spitze tief in den harten Boden. Nimue nahm ein halbes Dutzend Mäntel, hängte sie an den Griff des Speeres und beschwerte die Säume mit kleineren Steinen, so daß sie eine Art Zelt bildeten. Die dunklen Reiter formierten sich zu einem Ring um uns, hielten sich aber so weit entfernt, daß weder sie uns noch wir sie stören konnten. Nimue kramte unter ihren Otterfellen herum und holte jenen Silberbecher hervor, aus dem ich auf dem Dolforwyn getrunken hatte, sowie eine kleine Tonflasche, die mit Wachs versiegelt war. Sie schlüpfte in das Zelt hinein und winkte Ceinwyn, ihr zu folgen.
Ich wartete und wachte, während der Wind kleine schwarze Wellen über den See trieb. Dann hörte ich plötzlich, wie Ceinwyn aufschrie. Und wieder schrie sie, schrie ganz fürchterlich, so daß ich unwillkürlich zum Zelt laufen wollte, aber Issas Speer hinderte mich daran. Galahad, der als Christ an all das eigentlich nicht glauben durfte, stand achselzuckend neben Issa. »Nachdem wir’s bis hierher geschafft haben«, sagte er, »sollten wir’s auch zu Ende bringen.«
Wieder schrie Ceinwyn, und dieses Mal reagierte Merlin auf den Laut, indem er ein schwaches, mitleiderregendes Stöhnen ausstieß. Ich kniete mich neben ihn, streichelte ihm die Stirn und versuchte nicht daran zu denken, von welchen Schrecken Ceinwyn in dem schwarzen Zelt wohl träumte.
»Lord?« rief Issa zu mir herüber.
Ich drehte mich um und sah, daß er südwärts blickte, wo sich eine neue Reitergruppe in den Ring der Blutschilde eingereiht hatte. Die meisten Neuankömmlinge kamen auf Ponys, nur ein Mann saß auf einem mageren, großen Rappen. Dieser Mann mußte Diwrnach sein, soviel war mir klar. Hinter ihm wehte sein Banner: eine Stange, an die ein Querstück genagelt war, und an diesem Querstück hingen zwei Schädel und eine Handvoll schwarzer Bänder. Der König war ganz in Schwarz gekleidet, sein Rappe war mit einer schwarzen Schabracke bedeckt, und in der Hand trug er einen großen schwarzen Speer, den er waagerecht in die Luft hob, bevor er langsam vorwärts ritt. Er kam allein. Als er noch fünfzig Schritt von uns entfernt war, nahm er den Rundschild vom Rücken und drehte ihn demonstrativ um, damit wir sahen, daß er nicht kam, um Kampf zu suchen.
Ich trat vor und ging ihm entgegen. Hinter mir keuchte und stöhnte Ceinwyn in ihrem Zelt, um das meine Männer einen Schutzring bildeten.
Unter seinem Mantel trug der König eine schwarze Lederrüstung, aber er hatte keinen Helm auf dem Kopf. Sein Schild wirkte, als wäre er schuppig vor Rost, doch ich vermutete, daß diese Schuppen aus getrocknetem Blut bestanden und daß der Lederbezug die abgezogene Haut eines Sklavenmädchens war. Er hängte den gräßlichen Schild neben seine lange schwarze Schwertscheide, zügelte sein Roß und stützte das Ende des langen Speers auf den Boden. »Ich bin Diwrnach«, erklärte er.
Ich neigte den Kopf vor ihm. »Ich bin Derfel, Lord König.«
Er lächelte. »Willkommen auf Ynys Mon, Lord Derfel Cadarn«, gab er zurück. Offensichtlich wollte er mich damit beeindrucken, daß er meinen vollen Namen und Titel kannte; doch er überraschte mich weit mehr mit seinem Anblick, denn er war ein gutaussehender Mann. Ich hatte einen hakennasigen Dämon erwartet, eine Gestalt aus einem Alptraum, aber Diwrnach war im frühen mittleren Alter, hatte eine hohe Stirn, einen breiten Mund und einen kurzgeschnittenen, schwarzen Bart, der seine kraftvolle Kinnlinie betonte. An seiner Erscheinung war nichts, was auf Wahnsinn schließen ließ, aber er hatte tatsächlich ein rotes Auge, und das reichte, um ihn furchteinflößend wirken zu lassen. Er lehnte den Speer an die Flanke seines Pferdes und zog einen Haferkuchen aus seinem Beutel. »Ihr seht aus, als wärt Ihr hungrig,
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