ganze Zeit verkehrt geatmet hatte und die Luft nur in den oberen Bereich der Lungen eingedrungen war. Er hatte also sein gesamtes Leben – all die fünfzig Jahre – einen eklatanten Luftmangel gehabt. Wer hätte das gedacht? Du hattest recht, hatte er erst ein paar Tage zuvor zu Jill gesagt. Erinner mich daran, dir oder deinen verrückten Yogakursen gegenüber nie wieder so misstrauisch zu sein.
Mehr Luft. Wer hätte das gedacht? Warum konnten nicht auch alle anderen Probleme, die er hatte, so leicht zu beheben sein?
Während einiger Sekunden schlich er sich in seine Gedanken ein. Der geheimnisvolle Schatten. Lula Belle. Für gewöhnlich achtete er sorgfältig darauf, nicht an ihn zu denken – und schon gar nicht namentlich. Aber jetzt konnte er nichts dagegen tun. Denn sie war überall und nirgendwo zugleich und war im Begriff, sein Leben zu zerstören.
Ihre Abonnenten schrieben ihm noch immer, und obgleich er ihre Webseite bereits vor Monaten geschlossen hatte, gingen weiter täglich Mails unter seiner Hotmail-Adresse ein. Jedes Mal wenn er den Mut aufbrachte, unter
[email protected] zu gucken (was inzwischen immer seltener geschah), fand er Dutzende von Schreiben vor. Wo ist Lula Belle? Was ist mit der Webseite passiert? Ist sie gestorben? Hast du Schwein sie umgebracht? Ich will mein Geld zurück, du Arsch. Gib mir mein Geld zurück. Es ist deine Schuld, dass sie verschwunden ist, deshalb bist du mir was schuldig. Ich habe dir vertraut. Dir werde ich es zeigen. Ich werde dich aufspüren und dann … Du kennst mich nicht, aber ich kenne dich. Ich weiß, wer du bist … ich werde dich erwischen …
Manchmal tauchten diese Mails sogar in seinen Träumen auf. Er war online, dachte, er wäre allein, und dann wurden die Worte immer größer, bis sie den Computerbildschirm sprengten, breiteten sich auf den Wänden des Schlafzimmers aus und schrien ihn mit der Stimme des Schattens an. Hast du mich umgebracht?
Wenn er Glück hatte, wachte er an dieser Stelle auf.
Er kniff die Augen zu und machte einen neuerlichen tiefen Atemzug – einen reinigenden Atemzug, wie es in dem Kurs geheißen hatte … als könnte einen die Atmung reinigen. Während sich seine Lungenflügel blähten, spürte er in seiner Brusttasche das Handy, das er sich gekauft hatte, nachdem er auf die Anzeige von diesem Detektiv gestoßen war. Es war ein Prepaid-Handy, ohne GPS und Internet. Und ohne Apps wie dieses Spiel, bei dem man Früchte durch die Gegend warf und von dem seine Töchter so begeistert waren. Es war einfach nur ein Telefon, auf dem er für diesen Mann erreichbar war. »Aber rufen Sie nur an, wenn’s wirklich wichtig ist«, hatte er zu ihm gesagt. Und bisher nicht einen Ton von ihm gehört. Nachts versteckte er das Handy in seiner Schreibtischschublade, morgens aber steckte er es immer heimlich ein. Trotzdem hatte es in den vergangenen fünf Tagen nie geklingelt. Kein einziges Mal. Weil dieser Ludlow offenkundig eine Niete war.
Das Fotostudio – in dem es wie stets nach Babypuder roch – war ein großer, luftiger, in einem zarten Rosaton gestrichener Raum. Ira sagte, durch den Farbton würden die Gesichter seiner Kunden in ein schmeichelhaftes Licht getaucht. Aber Gary fand, dass diese Farbe – oder eher die Kinderzimmer-Süße dieser Farbe – schwer verdaulich war. Ira war einer der Besten seiner Branche, deshalb brachte Gary beinahe all seine Klienten für ihre Porträtaufnahmen her. Manchmal aber – wie zum Beispiel jetzt – fühlte er sich selbst zu dunkel für das Studio, als würde dessen Helligkeit durch die Düsternis, die er verströmte, korrumpiert, als sauge sie sich an den babyrosa Wänden fest, während die hellen Lampen summten: Schande, Schande, Schande über dich …
Hör auf, daran zu denken, sagte Gary sich in strengem Ton. Das hatte er trainiert. Man schloss eine Tür vor etwas, was einen gedanklich quälte – einem schlechten Traum, einer Person, einer Erinnerung … Man schloss einfach die Tür, sperrte sie ab und warf den Schlüssel fort. Und wenn man diese Tür allzeit verschlossen hielt und es einem gelang, nicht mehr daran zu denken, dass es jemals einen Schlüssel zu der Tür gegeben hatte, gab es alle diese Dinge, die sich dahinter verbargen, irgendwann nicht mehr. Dann verschwanden die Erinnerungen und die grässlichen Gefühle, die damit verbunden waren. Weil das Hirn ein wirklich starker Muskel war.
Ira tat sein Bestes, um gelungene Fotos von dem Mädchen zu