Aschebraut (German Edition)
erklärte sie und erinnerte ihn abermals daran, wie klein sie war. Und ihre Sorgen sollten noch viel kleiner sein. Am besten unsichtbar.
»Keine Sorge, Mäuschen. Ich bin froh, dass du dort gern hingehst. Das kannst du auch weiter tun.«
»Und warum hast du dann gefragt?«
»Nur so.« Er knipste schnell ein Lächeln an. »Manchmal sagt dein Daddy einfach gerne irgendwelches Zeug, das keinen Sinn ergibt.«
»Das ist aber dumm«, klärte ihn Hannah kichernd auf.
»Ich weiß. Ich bin eben ein dummer alter Mann.«
Sie kicherte noch lauter, und er sah sie fragend an.
»Hör zu, Mäuschen, kannst du vielleicht ein bisschen drüben spielen gehen? Daddy muss hier noch ein bisschen arbeiten.«
»Und warum arbeitest du in der Küche?«
Er stieß einen Seufzer aus. »Du kannst mein Handy mitnehmen und dieses Früchtespiel spielen.«
»Au ja!«
Gott sei Dank ließen sich Kinder so leicht ablenken.
Als die Kleine ihre Hand ausstreckte, schob er automatisch seine Hand in seine Hemdtasche – in der das geheime Prepaid-Handy steckte –, und als seine Fingerspitzen auf das Plastik trafen, hielt Gary entsetzt den Atem an. Er dachte an Welten, die zusammenprallten, explodierten – dachte an den Schatten … und für einen kurzen Augenblick wurde die Furcht von schmerzlichem Verlangen überdeckt. Er vermisste den von hinten angestrahlten Körper, die verführerische Stimme und die Dinge, die sie sagte. Weil oder obwohl er ihretwegen so zerrissen war. Er sollte so nicht denken. Nein, er sollte nicht so denken, ganz besonders nicht, wenn seine Tochter in der Nähe war, aber jetzt bekam er diese Stimme und die Worte einfach nicht mehr aus dem Kopf.
»›Lass uns zusammen wegfahren, Süße‹, hat dieser besondere Junge, den ich auf der Straße kennengelernt habe, zu mir gesagt.«
Mit zitternden Händen riss Gary sein Smartphone aus der Hosentasche und hielt es der Kleinen hin. »Ich … ich verstehe wirklich nicht, was euch Mädchen so an diesem Spiel gefällt.«
»Das Früchtespiel ist einfach toll. Weil es immer so schön quietscht, wenn man die Früchte schmeißt!«
»›Wir könnten die ganze Nacht durchfahren‹, hat der Junge gesagt. Nur er und ich. ›Wir könnten die Mörderstrecke nehmen und im Rückspiegel die Sonne aufgehen sehen und uns lieben. Bis ans Ende aller Zeit.‹«
In Garys Augen stiegen Tränen auf.
»Daddy?«
Er nahm Hannah in den Arm und zog sie eng an sich, als könnte er nur so verhindern, dass sie ihm entglitt. Doch als er wieder von ihr abließ, hatte er noch immer einen tränenfeuchten Blick.
»Jetzt siehst du wieder traurig aus«, stellte seine Tochter fest.
»Ich bin nicht traurig, sondern wütend«, hörte er sich sagen.
»Und auf wen?«
Gary atmete, wie er es in Jills Kurs gelernt hatte: tief und reinigend. »Auf die Zahnfee.«
Hannah nickte ernst. »Ich bin sicher, das war einfach ein Versehen.«
Nachdem sie den Raum verlassen hatte, schloss Gary kurz die Augen. Ich kann das alles regeln. Ich weiß ganz genau, ich kann das alles regeln. Und nach einer Weile kam es ihm so vor, als bete er. Bitte, lieber Gott, ich kann das alles regeln, bitte, bitte, ich weiß auch schon, wie. Lass mir nur noch etwas Zeit.
Er zog das Prepaid-Handy aus der Brusttasche von seinem Hemd und blickte auf die Nummern, die von dem Gerät aus angerufen worden waren. Jill hatte bei Ludlow angerufen und danach wahrscheinlich aufgehört. Oder spätestens bei Brenna Spector. Denn sonst hätte sie ihn sicher längst angerufen und nach zwanzig Jahren die Scheidung von ihm verlangt. Ich konnte sie beruhigen, hatte Ludlow ihm erklärt.
Gary hoffte, dass das stimmte, denn dadurch würde er noch etwas Zeit gewinnen. Auch wenn er es sich bestimmt nicht leisten konnte, diesem Typen zwanzig Riesen monatlich zu schicken. Nicht mal dieses eine Mal. Ganz egal, ob seine Tochter weiter zum Ballett ging oder nicht.
Aus dem Nebenzimmer hörte er, dass Hannah sich mit Lucy stritt – die ebenfalls erpicht auf Daddys Smartphone war. Wieder dachte Gary an einen Zusammenprall verschiedener Welten. Gott, er wollte seine Mädchen nicht verletzen. Wollte nicht, dass seine Mädchen traurig waren. Wollte, durfte sie auf keinen Fall verlieren. Weil das Leben ohne seine Töchter für ihn sinnlos war.
Wie in aller Welt bin ich an diesen grauenhaften Punkt gelangt?, fragte sich Gary. Doch natürlich kannte er die Antwort. Weil er ganz allein dorthin gefahren war.
Wir könnten immer weiterfahren, er und ich. Dieser besondere
Weitere Kostenlose Bücher