Ashby House
der großen Minen, das für den Rückgang der Kinderarbeit sorgte.«
»Sie kennen sich gut aus auf dem Gebiet.« Stephen war aufrichtig beeindruckt. Seine Schulausbildung hatte größtenteils aus Multiple-Choice-Tests bestanden.
»In meiner rebellischen Phase habe ich Marx und Engels gelesen. Es liegt schon eine Weile zurück, aber ›Die Lage der arbeitenden Klasse in England‹ vergisst man nicht so leicht. Allerdings sollen die Zustände in Cornwall bei Weitem nicht so schlimm gewesen sein wie im Rest Englands.«
»Wegen der gesunden Seeluft?«
»Nein«, Slasher ignorierte Lauras ironischen Einwurf, »wegen der Arbeitsbedingungen. Die waren in den Kohleminen und den Textilfabriken am schlimmsten. In Cornwall gab es hauptsächlich Mineralvorkommen. Trotzdem: kein sehr rühmliches Kapitel der englischen Geschichte.«
»Es ist kein sehr schönes Gefühl, zu wissen, dass die Erbauer dieses Hauses ihr Geld durch Kinderarbeit verdient haben.«
»Und sind Ihnen die kleinen Gespenster, die es in Ashby House angeblich gibt, schon begegnet?«
»Sie wussten, dass es hier spukt?«
Slasher lachte. »Aber Laura, Sie werden doch nicht einem Ammenmärchen aufsitzen, das am Leben gehalten wird, um der Region einen besonderen Charme zu verleihen? Spukhäuser sind eine britische Tradition. Eine Exzentrik, die der Engländer sich gönnt. Wer etwas auf sich hält, hat ein Gespenst auf dem Dachboden. Natürlich spukt es in Ashby House nicht. Ebenso wenig wie in Windsor Castle.«
Steerpike und Laura wechselten einen Blick, der weder Stephen Steed noch Hector Slasher entging.
Steed schluckte, dann begannen seine Augen zu funkeln. »Du meinst doch nicht etwa …?«
Slasher blickte Laura erwartungsvoll an. Er sah nicht, wie Steerpike, der hinter ihm stand, ein Kopfschütteln andeutete.
»Da habe ich euch aber Angst gemacht, was?« Ihr Lachen perlte (auch wenn es sich innerlich eher anfühlte wie das hysterische Herumspringen der Perlen auf einem Marmorboden, nachdem die Kette gerissen ist), und sie hoffte inbrünstig, dass ihre laienhaften Schauspielkünste bei Smalltalk nach schwerem Wein nicht auffliegen würden.
Während sie Steerpike ihren Teller zum Nachfüllen reichte, obwohl sie eigentlich satt war, musste sie sich zwingen, Slasher nicht anzuschauen. Je länger sie ihn erlebte, je mehr sie seiner Nähe ausgesetzt war, desto klarer wurde ihr, dass sie dieses Mal nicht aus der tiefen Sehnsucht heraus, nicht mehr allein sein zu wollen, haltlos in die Tiefe stürzte, sondern dass ihre sechsunddreißigjährige Seele sich wie die eines pickligen Teenagers wohlig und ein bisschen nervös öffnete, um einen Mann willkommen zu heißen, der in vielen Dingen dem entsprach, was sie sich von einem Mann erträumt hatte. In der Tat war Laura leichte Beute für gute Umgangsformen. Dass diese selbst von Massenmördern, Diktatoren und Sensationsjournalistenerlernt werden konnten, hielt sie nicht im Geringsten davon ab, Hector Slashers höflich-charmanter Art zu erliegen. Ihr nicht mehr ganz junges, nicht besonders reines und von vielen kalt geglaubtes Herz lag wie ein Welpe auf dem Rücken und wartete darauf, gekrault zu werden.
Laura und Stephen lagen ausgestreckt auf dem mit dicken Kissen bestückten Bett im Javanischen Salon und hatten bereits mehrere mit einem ordentlichen Schuss Cognac versehene Tassen Kakao getrunken. Slasher hatte sich nach dem Abendessen verabschiedet, nicht ohne unter Steerpikes Protest ein üppiges Frühstück für den nächsten Vormittag vorbereitet zu haben.
»Mister Steerpike, in diesem Haus haben früher bis zu dreißig Dienstboten gearbeitet. Sie können nicht alles allein machen. Jetzt gehen Sie zu Bett, und lassen Sie mich schalten und walten. Kein Protest! Die Küche gehört heute Nacht mir allein!«
Nach einem bestätigenden Nicken Lauras hatte sich Steerpike zurückgezogen. Erst da war ihr aufgefallen, wie deutlich ihm die Anspannung der vergangenen Tage ins Gesicht geschrieben stand, und nervös hatte sie die eigene Wange berührt, als ob sie so ihr eigenes Aussehen überprüfen könnte.
»Zugegeben, es ist ein imposantes Haus. Aber glaubst du wirklich, dass es das Richtige für euch ist?«
»Wem sagst du das! Ich weiß nicht, was ich in diesem England überhaupt soll. Aber du kennst Lucille. Wenn sie sich etwas in den Kopf setzt …« Sie zog sich Haarsträhnen vors Auge und überprüfte sie auf Spliss. »Sag mal, Stephen, hast du mit Lucille über ihr aktuelles Projekt
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