Ashes Bd. 1 Brennendes Herz
Und jetzt versuch ein bisschen zu schlafen.«
»Ich kann hier nicht schlafen.« Ellie wand sich hin und her, dass es raschelte. »Die Blätter kratzen.«
»Versuch es trotzdem.«
»Aber was, wenn … wenn dieses Mädchen … was, wenn die beiden …?«
»Die kommen nicht. Keine Angst.«
»Woher willst du das wissen?«
»Weil wir ganz lange gelaufen sind und sie uns nicht hinterhergerannt sind, und jetzt ist es dunkel. Wenn sie uns hätten verfolgen wollen, hätten sie das längst getan.«
Pause. Dann: »Warum haben die das gemacht? Warum waren sie …«
»Ich weiß es nicht.« Vielleicht waren die Jugendlichen durch den Blitz, der ihnen allen durchs Hirn geschossen war, verrückt geworden wie die Vögel und die Hirsche. Obwohl die Vögel ja jetzt wieder normal waren und Ellie auch, aber man musste doch absolut und total durchgeknallt sein, um Menschen zu essen . Allein der Gedanke daran verursachte bei ihr Gänsehaut und ließ ihre Zähne klappern. Hatten die Jugendlichen die Frau getötet? Es sah ganz so aus. Sie schien schon ziemlich alt gewesen zu sein, fünfzig oder sechzig, zusammen hatten die beiden sie also leicht überwältigen können. Vor Alex’ Augen lief ein Film ab wie eine dieser BBC-Tierdokus: Die Jugendlichen griffen die Frau an, stürzten sich auf sie, warfen sie zu Boden, rissen ihr den Bauch auf, bissen ihr die Kehle durch.
Himmel, genau wie Tiere . Alex schauderte. Und was war mit dem Gestank? Es hatte wie … ja, so ähnlich wie ein Tierkadaver gerochen, aber irgendwie auch sehr alt . Nein, alt war nicht das richtige Wort.
Die Jugendlichen hatten wild gerochen. Sie waren wild, ungezähmt, primitiv. Wie Zombies. Nur dass sie noch lebten. Oder waren sie vielleicht gestorben und dann wieder …? Nein, nein, das konnte nicht sein. Oder doch? Himmel, sie hatte keine Ahnung. Alex wusste nur, dass ihre elektronischen Geräte durchgeschmort waren und ihnen dieser Blitz oder Stromstoß durch die Gehirne gefahren war. Ihnen allen: den Tieren und diesen Jugendlichen und Ellie und ihr. Wie hatte sie da eigentlich glauben können, dass nur sie sich verändert hatte? Eine dumme Annahme, aber sie hatte ja auch keinerlei Anhaltspunkte. Oh Gott, und sie hatte nicht eine Sekunde lang darüber nachgedacht, ob dieser Blitz vielleicht nicht nur am Berg, sondern auf ein viel größeres Gebiet niedergegangen war – auch ins Tal. Der Berg lag jetzt circa acht Kilometer hinter ihnen. Wenn der Wirkungsbereich kreisförmig gewesen war, sagen wir mit einem Radius von acht Kilometern, das ins Quadrat gesetzt mal Pi ergab …
Du lieber Gott. Es verschlug ihr den Atem. Zweihundert Quadratkilometer? Der Waucamaw war riesig, etwa tausend Quadratkilometer groß. Wenn ihre Annahmen stimmten, dann war etwa ein Fünftel dieser Wildnis betroffen, eine riesige Fläche – und wie viele Menschen? Hier, so hoch im Norden, hatten die Herbstfarben etwa vor gut einer Woche am intensivsten geleuchtet, was hieß, dass massenhaft Touristen gekommen und teils schon wieder gefahren waren.
Aber was war mit diesen Jugendlichen passiert? Die hatten sich in ganz anderer Weise verändert als sie.
Oder auch nicht. Sie erinnerte sich daran, wie die Pferdeschwanzblondine geschnuppert hatte. Vielleicht hatte sich auch ihr Geruchssinn geschärft? Was, wenn das die erste Stufe war?
Ihre rastlosen Gedanken kehrten zurück zu den Schüssen. Zum ersten Mal zog sie in Erwägung, dass vielleicht nicht auf etwas, sondern auf jemanden geschossen worden war.
Würde sie auch so werden? Himmel, da wollte sie sich lieber vorher eine Kugel in den Kopf jagen. Aber was, wenn sie es gar nicht merkte, bis es zu spät war? Oder schlimmer noch, wenn sie die Veränderung gar nicht aufhalten wollte? Was, wenn es ihr egal war?
»Alex?«, drang Ellies Stimme aus der Dunkelheit an ihr Ohr. »Passiert mit uns auch, was mit den Jugendlichen passiert ist?«
Ihre Gedanken aus Ellies Mund zu hören machte Alex eine Heidenangst. »Nein«, antwortete sie mechanisch. »Es ist zu lange her. Es wäre schon passiert.«
Lügnerin. Die Stimme war leise, nur ein hauchzartes Wispern in ihrem Kopf. Du kannst gar nichts mit Gewissheit sagen. Du hast dich verändert und veränderst dich noch. Du riechst Dinge – und was sie bedeuten. Dieser Blitz hat dich erst heute Morgen erwischt, und sieh nur, wie weit es schon mit dir gekommen ist. Und wie schnell sich diese Jugendlichen verändert haben. Vielleicht ist die Entwicklung bei dir nur verzögert und setzt bald richtig
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