Auf Couchtour
Niente. Ich kam sogar später als du zurück. Bevor wir beide durchgestartet sind, haben wir abgemacht, dass keiner ohne den anderen zurück aufs Zimmer geht. Diego strolchte womöglich noch im Hotel umher, vielleicht sogar durch unser Zimmer. Dem war ja alles zuzutrauen. Nein, nein. Wer zuerst ankäme, würde so lange unten in der Lobby warten. Wir hatten uns auf spätestens neun Uhr morgens geeinigt. Du warst wie immer überpünktlich und throntest auf einem der Wolkensofas, als ich eintrudelte, auf den letzten Pfiff, auch wie immer.
Dein innerer Wecker rasselte um halb acht. Aaron lag noch im Tiefschlaf neben dir. Er atmete leise und entspannt. Du hast dich neben ihn gesetzt und ihn betrachtet wie einen Schatz, den du nur allzu gern behalten hättest. Der Haken an der Sache: Jeder Schatz gehört irgendwem – auch dieser. Und man muss ihn abgeben, sonst gibt’s Ärger. Aber anfassen darf man ihn und die Übergabe für ein letztes hingebungsvolles Liebesspiel hinauszögern. Deine Streicheleinheiten weckten ihn. Er behielt seine Augen geschlossen und genoss das sanfte Kreisen deiner Hände, bis es unübersehbar wurde, dass er wach war. Er zog dich zu sich runter, küsste dich und ließ dich ein letztes Mal ›Oh, mein Gott!‹ ausrufen.«
»Hab ich das echt gesagt?«
»Geschrien – circa eine Million Mal.«
»Oh mein Gott!«
»Genau so, nur viel, viel lauter.« Charline wird rot wie ein Stoppschild.
»Ist das peinlich!«
»Wieso? Ihm hat es gefallen. Das ist doch die Hauptsache. Es fiel dir unendlich schwer, dich aus seiner Umarmung zu lösen, um dich vor eurem Aufbruch noch etwas frisch zu machen. Es hatte etwas Endgültiges, was ihr beide nicht wahrhaben wolltet. Du hast es bis auf die letzte Minute rausgezögert und bist immer wieder schwach geworden – verständlich.«
»War noch was zu retten, von mir, meine ich?«
»Klaro. Ich würde dich nie am helllichten Tag auf die Straße jagen wie eine Bordsteinschwalbe nach einer Nacht Akkordarbeit. Gut, Strumpfhose und Slip waren hin. Nackte Beine im Januar sah man in London eher selten, aber, zu deiner Beruhigung, keiner bemerkte es, und dir konnte die Kälte eh nichts anhaben, so aufgeheizt, wie du warst. In einer Großstadt begegnet einem ständig Kurioses. Städter sind cooler als wir Dörfler. Ergo: alles bestens. Während Aaron im Bad war, hast du dich aufs Bett gesetzt, dir sein Kissen genommen und deine Nase darin vergraben. Deine Blicke durchwanderten jeden Winkel des Zimmers. Du wolltest dir alles einprägen – schwierig bei dem Durcheinander. Du wirktest gefasst. Keine Träne, keine Reue, nur ein Lächeln.
Er begleitete dich zum Hotel. Um das Zimmer würde er sich später kümmern. Die Strecke kam dir erschreckend kurz vor, jetzt ohne Umweg durch den Park. Ihr habt kaum gesprochen, euch immer wieder angeschaut. Dann, vorm Eingang des Heavens Door, der Abschiedskuss. Charline, mir fehlen die Worte. Die Menschen auf der Straße blieben stehen und gafften – ein paar Japaner knipsten euch, weil sie dachten, hier wird gerade ein Liebesfilm gedreht. Es bildete sich eine Traube um euch, in der sich jeder einen Platz in der ersten Reihe erdrängeln wollte. Ihr wart so in euren Abschied versunken, dass ihr nichts davon mitbekommen habt. Erst, als es Zeit wurde für dich, zu gehen, kehrte euer Bewusstsein für euer Umfeld zurück. Die Leute applaudierten. Dir war es total unangenehm. Aaron konnte das nicht aus der Ruhe bringen, er hielt dich mit seinen Blicken fest. Ihr habt weder Handynummern getauscht, noch euch für ein weiteres Date verabredet. Ihr wusstet beide: Eure gemeinsamen Stunden ließen sich nicht wiederholen.
Jede Sekunde deines Lebens ist einzigartig. Stell dir ein Karussell vor, in das du zum ersten Mal einsteigst: deine Emotionen, die Spannung, das Ungewisse, die Aufregung, die Atmosphäre, deine Wahrnehmung mit all deinen Sinnen. Du kannst dich noch so oft in die Schlange stellen und Karten lösen. Keine Fahrt wird so sein wie die erste. Ihr beide würdet euch für den Rest eures Lebens an diese Nacht erinnern – ungetrübt und völlig frei von Problemen, die euch zwangsläufig bald überrollt hätten. Es wird euer Geheimnis bleiben auf ewig.«
»Ist das schön! Das ist genau das, was ich gebraucht habe.« Charline streckt sich auf dem Sofa lang aus. Ihre Gedanken überschlagen sich, und ich sehe ihr an, dass sie versucht, alles, was ich ihr erzählt habe, zu verinnerlichen, damit sie es jederzeit wieder abrufen kann –
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