Bärenmädchen (German Edition)
her.
Wenig später stand sie dann tatsächlich wieder in der Werkstatt neben dem Unterrichtszimmer. Ihr ehemaliger Zofenkundelehrer hatte sie schon erwartet. Er und Rockenbach redeten unablässig über technische Details der Stutenerziehung. Es ging anscheinend um das Halsband. Sie hörte die Worte, aber es schien ihr viel zu anstrengend, ihnen einen Sinn abzugewinnen. Immer noch fühlte sie sich wie in Trance. Ein überaus gnädiger Zustand, wie sie fand. Sie würde ihn nicht ohne Not aufgeben. Jetzt aber horchte sie auf. Im Gespräch der beiden Alphas war der Namen Philippe de Ortega gefallen. Irgendjemand war an ihn verkauft worden. Eine Stute. Wie ein Motor, der an einem frostkalten Morgen widerwillig und stotternd ansprang, kam Annes Verstand in Bewegung. Sie hörte, dass der Stute nicht nur das S tätowiert worden war, sondern auch das Besitzzeichen Ortegas. Es war gerade eben geschehen. Man käme direkt von Kiko Ishida, der niedlichen Japanerin mit den scharfen Miniröcken. Zu schade, dass sie keine Beta sei, hörte sie Rockenbach sagen.
Und jetzt? Jetzt heulte der Motor auf und katapultierte seine Fahrerin geradewegs auf einen schwarzen Abgrund zu. Sie war die Stute! Sie war verkauft! An Ortega, den Aufrührer und Bösewicht, den Betaquäler. Panisch versuchte sie auf ihren Po zu schauen. Wie ein Kreisel begann sie sich zu drehen. Kein Verband, sondern Klarsichtfolie klebte über der tätowierten Hautpartie, aber eine dicke Schicht weißer Creme bedeckt das, was darunter war. Sie sah ohnehin nur den äußersten Rand der Fläche, denn ihr Hintern drehte sich gemeinerweise immer mit, egal wie schnell sie sich auch wenden und verrenken mochte. Schließlich hatte Rockenbach genug. Er verpasste ihr eine Kopfnuss, die sie gegen eine der Werkbänke taumeln ließ.
„Uuuups, da hat jemand anscheinend gerade etwas neues erfahren“, kommentierte Attila von Ungruhe trocken. „Müssen Betas derartigen Transaktionen nicht zustimmen?“, wollte er wissen.
„Nicht, wenn sie als schwer erziehbar geführt werden“, antwortete Rockenbach. „Da reicht die jährliche Einverständniserklärung, dass sie zur Organisation gehören. Die hat unser Schätzchen hier ja nun gerade vor dem Willkommensfest unterschrieben. Außerdem kann sie doch mächtig stolz sein. Jetzt gehört sie einem richtig berühmten Alpha.“
Von Ungruhe antwortete nicht, sondern trat dicht an Anne heran. Sie senkte den Blick. Ihr war schlecht vor Schreck. Ihr schwindelte. Daher hielt sie sich immer noch krampfhaft an der Werkbank fest. Gedankenfetzen wirbelten durch ihren Kopf. Hatte Adrian das gewusst? Was bedeutete es? Ließ sich der Verkauf rückgängig machen?
Von Ungruhe schaute sie unterdessen merkwürdig unergründlich an. Geistesabwesend befühlte er ihr Halsband. Dann wandte er sich zu Rockenbach: „Wissen sie, bei manchen Betas finde ich es eigentlich fast schade, wenn sie in die Spezialausbildung kommen. Es nimmt ihnen so viel.“ Er machte eine Pause, dann fuhr er fort: „Anne war so lebhaft im Unterricht. Sie konnte die verrücktesten Antworten geben. Im Fach Beta-Konversation war sie hinreißend - im Rahmen ihrer Möglichkeiten natürlich.“
Es war vor allem die Art, wie er sprach, die sie plötzlich mit einem wahnwitzigen Hass erfüllte. Er hatte genau jenen Ton leichten Bedauerns in der Stimme, den man aufbringt, wenn man feststellt, dass einem die U-Bahn vor der Nase weggefahren ist und erst in fünf Minuten die nächste zu erwarten ist. Hier ging es doch um sie. Um einen Menschen. Sie hob ihre Augen und schaute ihm direkt ins Gesicht. Er prallte zurück, als hätte die lodernde Wut in ihrem Blick tatsächlich die Macht, ihn verglühen zu lassen. Im nächsten Augenblick blickten beide fast gleichzeitig auf die Werkbank direkt vor Anne. Nur wenige Zentimeter von ihrer rechten Hand entfernt lag inmitten von Elektronikteilen und dicken schwarzen Kabeln eine große Schere. Ein altmodisches Exemplar war es. Ganz aus Metall, matt glänzend vom langen Gebrauch und sehr, sehr spitz. Es war, als wollte diese Schere unbedingt in Annes Hand, und sie sah plötzlich ganz deutlich, was dann passieren würde. Sie sah, wie das Ding auf den Mann vor ihr niedersauste, wie es seinen schmuddeligen, weißen Kittel perforierte und dabei jede Menge blutig-roter Löcher hinterließ.
Er war einer von diesen Schurken und Widerlingen. Sie würde ihn stellvertretend für alle anderen zur Hölle fahren lassen. Stellvertretend für Ben „Ich bin so
Weitere Kostenlose Bücher