Balthazar: Roman (German Edition)
Lehrerbemerkung. Aber im Moment war er viel zu erleichtert, um sich deswegen groß Gedanken zu machen.
Er hatte sich bislang gar nicht gefragt, ob Redgrave und die anderen überhaupt an die Tür geklopft hätten, wenn sie gekommen wären, um ihm etwas anzutun. Aber eigentlich rechnete er nicht damit, dass es in der Nacht, in der sie ihn umbringen wollten, ein warnendes Pochen in seinem Körper geben würde.
Balthazar betrat den Raum seiner ersten Unterrichtsstunde unmittelbar vor dem Klingeln, sodass alle Schüler bereits auf ihren Plätzen saßen. Er ließ einen, wie er hoffte, professionellen Blick durch die Klasse wandern, wobei seine Augen natürlich in Wahrheit nur nach Skye Ausschau hielten.
Schließlich fand er sie. Anstatt niedergeschlagen wegen der Ereignisse des letzten Abends auszusehen, wie er eigentlich befürchtet hatte, schaute sie ihn gelassen, ja beinahe heiter an, als wäre nichts geschehen. Und sie hatte sich auch entsprechend angezogen.
Dieser Rock … Das kann doch unmöglich den Kleidervorschriften entsprechen .
Skyes Outfit war zwar kein bisschen empörend – ihr Pullover war sogar ein wenig zu groß, und die Farben beschränkten sich auf Schwarz und Dunkelgrau und dazu passende pflaumenfarbene Strumpfhosen. Allerdings bekam Balthazar viel von diesen Strumpfhosen zu sehen, sogar der Großteil ihrer Oberschenkel war unbedeckt, denn dieser Rock …
Es ist auf keinen Fall professionell, vor der ganzen Klasse über die Kleidung einer einzelnen Schülerin nachzudenken , tadelte Balthazar sich selbst und riss sich zusammen, so gut es ging. »Guten Morgen, alle zusammen. Heute werden wir uns dem ersten Kapitel ihres Lehrbuches widmen, auch wenn ich leider nicht viel Zeit hatte, mich vorzubereiten. Ich musste gestern die Aufsicht beim Basketballspiel übernehmen.«
»Wo Ihnen Weatherman gezeigt hat, was er draufhat«, rief jemand, und beinahe die ganze Klasse begann, zu jubeln und zu klatschen. Einige Leute klopften einem großen, gut aussehenden Burschen in der ersten Reihe, der seinen Kopf offenbar nicht aus gespielter Bescheidenheit gesenkt hielt, auf die Schulter. Balthazar warf einen Blick auf den Sitzplan und stellte fest, dass es sich bei dem jungen Mann um WEATHERS, CRAIG handelte … Skyes Ex, wie ihm dämmerte. Nicht, dass es ihn etwas anging.
»Okay, jetzt beruhigen wir uns alle erst mal wieder.« Er klang immer mehr wie ein Lehrer. »Basketball ist vorbei, und Kolonialgeschichte hat begonnen. Dann wollen wir doch mal sehen, was wir hier haben … Kapitel eins handelt von … der Religionsfreiheit.«
»Ich glaube, es handelt von den Pilgervätern?«, sagte ein süßes, asiatisches Mädchen, das direkt neben Craig saß, mit seltsam fragendem Unterton. »Und wie sie nach Amerika gekommen sind, um dort Religionsfreiheit für alle zu erreichen?«
»Tja, nun, das stimmt nicht ganz«, sagte Balthazar. »Steht das da?«
Die Schüler tauschten untereinander verblüffte Blicke aus. Nur Skye versteckte ein Lächeln hinter ihrer Hand. Dann meldete sich Madison Findley: »Ja, das steht da. Ich meine, darum ging es doch auch, oder etwa nicht?«
»Nein. Das genaue Gegenteil war der Fall.« Balthazar blätterte das erste Kapitel durch, das von einem Autor mit deutlich mehr Patriotismus als gesundem Menschenverstand verfasst worden war. »Das stimmt so nicht. Und das hier … Guter Gott, hier ist ja alles falsch. Das ist alles vollkommener Unsinn.«
Das asiatische Mädchen, das laut Sitzplan FONG, BRITNEE hieß, sagte: »Warum sind sie denn dann dorthin gekommen?«
»Der Grund dafür, dass die Gottesfürchtigen … Halt, lassen Sie mich noch mal von vorne anfangen. Die Puritaner haben sich selbst gar nicht so bezeichnet; so wurden sie nur von den Leuten genannt, die sie nicht mochten – also praktisch von allen, die selber keine Puritaner waren.« Allerdings war er, Balthazar, in den letzten Jahrhunderten selbst dazu übergegangen, so von sich zu sprechen: Die rechthaberische Gegenwart spielt sich gerne der Vergangenheit gegenüber als allwissend auf.
»Der Grund, warum niemand die Gottesfürchtigen mochte, war deren Überzeugung, dass sie den einzig wahren Weg zu Gott kannten und die einzig wahre Art und Weise, wie man sein Leben zu führen hatte. Sie sind nicht in die Neue Welt gekommen, um dort für Religionsfreiheit zu sorgen; sie sind dorthin aufgebrochen, um das Königreich Gottes auf Erden zu errichten. Sie selber konnten ihre Religion ausüben, wie es ihnen gefiel, aber alle
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