Balthazar: Roman (German Edition)
sie wären auf jeden Fall wärmer, was im Januar nördlich von New York nicht zu unterschätzen war. Aber das tat sie nicht. Nach all den Jahren, die sie nun schon ritt, hatte sie tolle Beine, und sie fand selber, dass diese zu ihren größten Vorzügen gehörten. Sie genoss die warme Welle, die sie jedes Mal durchströmte, wenn sie sah, wie Balthazar einen verstohlenen Blick darauf warf.
Der Geschichtsunterricht war anspruchsvoll, denn Balthazar war sein Fach sehr wichtig. »Brauchen wir unser Lehrbuch überhaupt noch?«, fragte Madison eines Tages, als Balthazar gerade mal wieder einen riesigen Stapel Fotokopien herumgehen ließ.
»Nein, das benötigen wir nicht mehr.« Balthazar klang äußerst zufrieden darüber. »Sie müssen es erst wieder mitbringen, wenn Mr Lovejoy zurückkommt, und, offen gesagt, wären Sie auch dann besser bedient ohne dieses Werk. Wenn Sie einen unverfälschten Eindruck von der Kolonialzeit haben wollen, dann müssen Sie sich Originalquellen anschauen.«
Skye blätterte durch ihre Kopien und sah, dass ihr Unterrichtsmaterial nun aus alten Urkunden, Tagebüchern und anderen Dokumenten aus der Kolonialzeit bestand. Es waren keine Auszüge, keine Interpretationen und keine Kommentare, sondern nur die unbearbeiteten Originaltexte. Der Rest der Klasse begann zu stöhnen, und Skye war sehr dankbar, dass ihr bei der Lektüre der ideale Nachhilfelehrer zur Verfügung stehen würde.
»Ich weiß, dass das nicht sehr vergnüglich aussieht«, sagte Balthazar, der bei bester Laune blieb. »Aber ich bin ja da, um Ihnen so viel wie möglich zu helfen. Wenn es irgendetwas aus dieser Zeit gibt, was Sie nicht verstehen, fragen Sie mich, was auch immer es sein mag, und ich werde es Ihnen erklären.« Britnees Hand schoss in die Höhe. »Oh, jetzt schon. In Ordnung. Was gibt es, Britnee?«
»Mr More? Ich frage mich immer: Bei diesem alten Kram ist die Schreibweise so komisch? Die Leute haben ein ›f‹ geschrieben, wenn sie ein ›s‹ meinten? Ich verstehe den Grund dafür nicht? Haben sie das damals wirklich auch anders ausgesprochen?«
Balthazar starrte sie einen Moment lang in die Ecke getrieben an. Dann brachte er doch noch eine Antwort zustande: »Sie haben es nicht anders ausgesprochen als wir heute. Die Schreibweise war … nur eine damalige Konvention. Das ist zwar nicht logisch, aber wir machen heute schließlich auch Dinge, die genauso seltsam erscheinen.« Er holte tief Luft. »Lassen Sie uns weitermachen.«
Skyes übrige Stunden machten lange nicht so viel Spaß, und so wartete sie immer sehnsüchtig auf die Freiarbeitsstunde am Ende des Tages. Endlich war es ihr auch gelungen, den Anatomie-Kurs loszuwerden, denn das Risiko, den Herzanfall des Hausmeisters auf die gleiche Weise nachzuempfinden wie die Strangulation des Selbstmordopfers, war einfach zu groß. Die Schule hatte sie in ihren Freistunden als Hilfskraft für Mr Bollinger eingetragen, der zwar supernett war, aber nicht sehr viel für sie zu tun hatte.
Manchmal merkte Skye, dass sie in einen Alltagstrott verfiel. Sie traute sich nur noch an die Orte, von denen sie wusste, dass sie dort in Sicherheit sein würde. Aber da ihr Vampire auf den Fersen waren, schien ihr eine feste Gewohnheit nicht die schlechteste Idee zu sein. Sie würde sich mit der Frage, welche Auswirkungen ihre Visionen auf ihr zukünftiges Leben hatten, befassen, sobald die augenblickliche Krise überwunden war.
Zu ihrem Alltag gehörte es auch, sich auf die Freiarbeit zu freuen, obwohl sie normalerweise die langweiligste Stunde des Tages war. Jetzt sah das anders aus, denn das war die Zeit, in der sie mit Balthazar Textnachrichten wechseln konnte.
Sie ging sogar zu Craigs Basketballspielen, wenn Balthazar dort Aufsicht führte; allerdings nahm sie niemals mehr die Abkürzung unter den Tribünen hindurch. Gewöhnlich ging sie mit Madison und deren Freunden dorthin. Manchmal konnte sie neben Balthazar auf der Tribüne sitzen und sogar mit ihm reden und herumalbern. Skye achtete zwar darauf, ihn niemals direkt anzusprechen, wenn sie von so vielen Schülern beobachtet werden konnten, aber es war doch schön, einfach in seiner Nähe zu sein. Und noch schöner war es, wenn sie bemerkte, wie er ihr mit den Blicken folgte, sobald sie mit Madison, Keith, Khadijah und dem Rest der Truppe herumalberte.
Am allerbesten war es allerdings, wenn sie sich allein begegneten.
»Du kommst wirklich gut mit Peppermint klar«, sagte Skye und beobachtete Balthazar, der neben ihr
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