Bardenlieder von Silbersee - Die Drachenreiter 1: Schicksalsschlaege (German Edition)
Dorthin wollte sie gelangen. Es war nicht ganz das, was ihr Bruder ihr aufgetragen hatte. Und es war riskant. Doch Linara vertraute ihren Fähigkeiten weit genug, um überzeugt zu sein, dass sie jeden, der sich innerhalb der Ruine aufhalten mochte, bemerken würde, ohne selbst entdeckt zu werden. Und immerhin hatte Atharis nicht spezifiziert, wo der Aussichtsposten sein und wie lange sie dort verharren sollte.
So erklomm sie den nächsten Baum, der seine Krone weit über die Ruine streckte. Von einem tief hängenden Ast ließ sie sich auf eine Mauer fallen, balancierte darauf, übersprang einen eingestürzten Torbogen und landete sicher auf den Überresten eines massiven Stützpfeilers. Hier kauerte sie sich hin und überdachte ihren weiteren Weg.
Eine Wand spannte sich quer vor ihr. Linara vermutete, dass dahinter der Hof lag. Doch gut zwei Meter trennten sie von der Mauer und die Elfe zögerte, die Distanz ohne Anlauf zu überspringen.
Zweifelnd sah sie an ihrem Hochsitz hinab. Auf dem Boden der Ruine lagen hier überall Steine und Schutt, bedeckt von einem Teppich aus Brombeersträuchern und Brennnesseln. Es schien der Elfe keine bequeme Alternative zu sein, hinabzusteigen und es mit den Dornenranken aufzunehmen. So sammelte sie allen Mut, besann sich darauf, eine Waldelfe zu sein, und sprang.
Mit wenig elfenhafter Eleganz und so gar nicht verstohlen und leise landete sie hart auf der Mauer. Nur ihre robuste Lederkleidung verhinderte, dass sie sich die Knie aufschrammte. Steine lösten sich und polterten hinab, um mit einem geräuschvollen Rascheln vom Dickicht empfangen zu werden. Linara ließ sich flach auf den Bauch fallen, was jedoch wenig Sinn hatte. Selbst ein Maulwurf mit Sehfehler hätte sie dort oben entdeckt, wie sie da lag, leise fluchend die schmerzenden Beine reibend.
Vor ihr erstreckte sich nun tatsächlich der Innenhof. Und er war keineswegs so unberührt und verwildert wie der Rest der Ruine.
Nun gab es natürlich gerade hier ebenfalls keinen intakten Dachstuhl. Deshalb hatte jemand nachgeholfen und aus Holzstämmen und Tierhäuten ein Zelt errichtet. Das Bauwerk nahm gut ein Viertel des Hofes ein. An zwei Seiten wurde es von Steinmauern begrenzt, während die beiden anderen nur stellenweise mit Leder abgedeckt waren. Das Innere konnte Linara von ihrer erhöhten Position nicht sehen.
Behutsam glitt sie von der Mauer herab. Deckung schien ihr überflüssig. Wäre jemand in dem Zelt, hätte er ihr Nahen bereits bemerkt und wohl entsprechend reagiert. Sie konnte sich also getrost umsehen.
Wer immer hier hauste, hielt es nicht so genau mit Ordnung und auch nicht mit Sauberkeit. Holzscheite lagen kreuz und quer. Dazwischen standen Vorratsgefäße, nicht wenige waren zerbrochen. Linara sah auch mehrere Speere. Sie steckten senkrecht im Boden. An ihren oberen Enden hing etwas, das die Elfe zuerst nicht identifizieren konnte, bis sie nahe herantrat.
Linara erschrak. Es waren tote Vögel, teilweise gerupft und offenbar zum Trocknen aufgespießt.
Doch nicht der Umstand, dass hier jemand entweder primitive Methoden der Feindabschreckung praktizierte oder ganz einfach nur sonderbare kulinarische Vorlieben hatte, schockierte Linara. Vielmehr fürchtete sie, den Kadaver eines Phönixes ebenfalls hier zu finden. Jacharthis!
Der Gedanke war absurd. Eine Gestaltwandlung wie durch das magische Amulett endete spätestens mit dem Tode. Das wusste Linara. Trotzdem nagte die Angst an ihr und verging erst, als sie zu jeden einzelnen Speer gelaufen war, ohne eine einzige feuergoldene Feder zu finden.
Jede Vorsicht außer Acht lassend, bemerkte sie nicht, dass Augen sie beobachteten.
Mit einem Seufzer setzte sich Linara auf eine Holzkiste nahe dem kopfüber hängenden Kadaver einer Krähe, der von mehreren Fliegen eifrig umschwirrt wurde.
»Was mache ich hier? Vermutlich bist du weit weg. Und ich werde dir nie sagen können, dass es mir leidtut.«
Ein Schatten löste sich aus einer Mauernische und schob sich näher.
Linara legte den Kopf in den Nacken. Hoch am Himmel zogen einige Schwalben ihre Schleifen.
»Es war für uns nur ein Spaß. Wir haben uns nichts dabei gedacht. Und du hast auch nie etwas gesagt.«
Der Schatten verharrte in der Deckung eines Holunderstrauches.
»Du hast nie irgendetwas gesagt.« Linara schüttelte ihr Haar, sodass es in Wellen über ihren Rücken floss. »Genau genommen weiß ich doch nur, wie du heißt und dass ich dich finden will. Hätte ich geahnt, wie viel es dir
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